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»Weil das Studium der seltenen Erkrankungen unentdeckte Eigenschaften des menschlichen Körpers offenlegen kann«

Das Zentrum für Seltene Erkrankungen (ZSE) leistet mit seinem Versorgungs- und Ausbildungsangebot einen wichtigen Beitrag auf dem Feld seltener oder ungeklärter Erkrankungen

Das Zentrum für Seltene Erkrankungen (ZSE) besteht seit 2013 als fachübergreifende Einrichtung der Universität zu Lübeck und des Universitätsklinikums Schleswig-Holstein. Bislang haben sich dreizehn Kliniken und Institute zusammengeschlossen, die eine interdisziplinäre Zusammenarbeit auf hohem Niveau gewährleisten. Dadurch können ein großes Spektrum seltener Er­kran­kungen erforscht, komplexe Zusammenhänge offengelegt und aus der jewei­ligen Perspektive der Fachdisziplinen interpretiert werden. Zu den Schwerpunkten in Lübeck zählen seltene (neuro-) genetische Syndrome, seltene Bewe­gungsstörungen und neurodegenera­tive Erkrankungen, Störungen der Geschlechtsentwicklung, seltene blasenbildende Haut- sowie seltene endokrinologische, rheumatologische und nephrologische Erkrankungen. Mit dieser Expertise beteiligt sich das Lübecker ZSE an einem weit gefächerten Austausch mit Experten in internationalen Verbünden – beispielsweise an europäischen Referenznetzwerken für seltene Erkrankungen, die sich in den letzten Jahren etabliert haben.

Das Lübecker ZSE ist als eines von neun Zentren für seltene Erkrankungen am bundesweiten Projekt ›Translate NAMSE‹ beteiligt und widmet sich zentrumsübergreifend Defiziten in der medizinischen Versorgung von Menschen mit seltenen Erkrankungen. Um die Qualität in der Betreuung und Behandlung von Patienten ohne spezifische Diagnose oder mit unklaren Verläufen zu steigern, werden diese hier nach einem gemeinsam festgelegten diagnostischen Prozess versorgt. So erhält jeder Patient einen strukturierten Fragebogen zur bisherigen Krankheitsgeschichte und wird gebeten, sowohl eine Selbstschilderung zu verfassen als auch eine ärztliche Epikrise des betreuenden Haus- oder Facharztes einzuholen. Diese Unterlagen werden mit vorliegenden Arztberichten zu bereits durchgeführter Diagnostik und vorangegangenen stationären Aufenthalten ausgewertet. Neben einer synoptischen Kasuistik wird eine wissenschaftliche Recherche durchgeführt und der jeweilige Fall in einer interdisziplinären Fallkonferenz vorgestellt. Allen Patienten wird abschließend eine Empfehlung, z.B. die Vorstellung in einer Spezialsprechstunde hier am Haus oder auch extern, ausgesprochen. Diese Herangehensweise ist unerlässlich, um bei Pati­entinnen und Patienten mit einer seltenen Erkrankung das Vertrauen in die Medizin zu erhalten, da sie häufig eine lange Odyssee von Arztbesuchen erleben, bevor sie und ihre Angehörigen eine Diagnose erhalten. Auch wenn die Diagnose einer seltenen Erkrankung gestellt wurde, sind in herkömmlichen Versorgungsstrukturen viele Behandlungsabläufe nicht optimal definiert und können so auch nicht effizient umgesetzt werden. Zudem gibt es noch etliche Hürden bei der Diagnostik seltener Erkrankungen, u.a. durch eine unzureichende Finanzierung genetischer Diagnostik. Hier wird häufig das Argument einer unzureichenden Behandlungsrelevanz genetischer Diagnosen vorgebracht. Aufgrund erstaunlicher Fortschritte in Hinblick auf eine ursachenorientierte Therapie, jedoch auch aufgrund des hohen Leidensdruckes mit häufig erheblichen sozialen Beeinträchtigungen ver­liert dieses Argument nicht nur seine Plausibilität, sondern wird zunehmend ethisch problematisch.

Neben der Betreuung von ratsuchenden Patienten widmet sich das ZSE der Ausbildung Studierender der Universität zu Lübeck. Mit dem Wahlfach ›Diagnostik und Therapie Seltener Erkrankungen‹ steht Studierenden der Medizin, Psychologie, Gesundheitswissenschaften sowie der MINT-Fächer ein studiengangsübergreifendes Modul mit dem Ziel der Vermittlung spezieller Kenntnisse zu seltenen Erkrankungen zur Verfügung. Zentral ist dabei die Vermittlung spezifischer Kenntnisse ebenso wie die Herangehensweise und der persönliche Umgang mit Patienten mit seltenen oder ungeklärten Krankheiten.

In einem weiteren Ausbildungsschritt können Studierende der Medizin am Prozess der Diagnosefin­dung und Betreuung im Rahmen einer Studierendenklinik selbstständig erste Schritte der Fallbearbeitung erlernen, selbständig recherchieren und im Team der Ärzte diese Fälle vorstellen. Aus dem Wahlfach und der Studierendenklinik ist die Idee eines ZSE-Wochenendseminares erwachsen, um Motivation und Interesse seltenen Erkrankungen gegenüber gebündelt weiter zu vermitteln. Neben einem breiten Programm aus Vorträgen konnte ein schauspielerischer Workshop integriert werden, der den Studierenden einen Rollenwechsel und eine reflektierende Position im Umgang mit Krankheit und Krankheitsverarbeitung ermöglicht.

Das Lübecker ZSE koordiniert auch die 2017 auf der Wartburg in Eisenach gegründete Deutsche Akademie für Seltene Neurologische Erkrankungen (DASNE; dasne.de), eine Wegbereiterin für eine optimierte und personalisierte Diagnostik, Betreuung und Behandlung von Patienten mit seltenen neurologischen Erkrankungen aller Altersgruppen. Als erste derartige Einrichtung in Deutschland verfolgt die Akademie das Ziel, Expertise im Bereich aller seltenen neurologischen Erkrankungen durch strukturierten persönlichen Austausch deutscher Experten zu bündeln und kontinuierlich weiter zu entwickeln. Die zentrale Koordination und der weitere Auf- und Ausbau der Deutschen Akademie für Seltene Neurologische Erkrankungen wird großzügig und nachhaltig von der Damp Stiftung (Kiel) unterstützt.

Das Lübecker ZSE wird von der Possehl-Stiftung (Lübeck) gefördert. Über die Förderung der Stiftungsprofessur ›Bewegungsstörungen und Neuropsychiatrie bei Kindern und Erwachsenen‹ am Institut für Neurogenetik bahnte die Stiftung der Bildung und Entfaltung eines Nukleus einer fächer- und altersübergreifenden klinisch-neurowissenschaftlichen Struktur im Bereich seltener, das Nervensystem betreffender Krankheiten den Weg. Für den Aufbau der Deutschen Akademie für Seltene Neurologische Erkrankungen (DASNE) erhält das ZSE eine großzügige Unterstützung der Damp Stiftung. Die Wessel-Stiftung unterstützt die ZSE Studierendenklinik und ermöglichte so unter anderem das neue Format interdisziplinärer mehrtägiger Studierenden-Workshops mit besonderen Angeboten und Referenten, u.a. auch in Kooperation mit dem Hamburger ZSE und Kampnagel Hamburg. Die König-Stiftung fördert Projekte zur besseren Versorgung von Kindern mit Seltenen Erkrankungen.

Für besondere künstlerische Projekte, insbesondere das Theater-Projekt ›Das Theater der infamen Menschen‹ zur Verbesserung der Wahrnehmung spezieller Probleme und Belastungen bei Menschen mit seltenen neuropsychiatrischen Erkrankungen wie z.B. einem schweren Tourette-Syndrom gelang es, finanzielle Förderungen von der Jung-Stiftung für Wissenschaft und Forschung (Hamburg), der Hubertus Wald Stiftung (Hamburg) und der Sparkassenstiftung (Lübeck) zu erhalten.

Zum Vorstand des ZSE gehören Prof. Dr. Detlef Zillikens, Prof. Dr. Christine Klein,
Prof. Dr. Alexander Münchau, Prof. Dr. Gabriele Gillessen-Kaesbach und Prof. Dr. Olaf Hiort.

Kommentare

Erkrankungen werden als selten definiert, wenn fünf pro 10.000 Personen oder weniger von dieser Krankheit betroffen sind. Etwa 7000 bis 8000 der rund 30.000 bekannten Krankheiten sind selten. Schätzungen zufolge leiden in Deutschland etwa vier Millionen Menschen an einer seltenen Erkrankung, davon zwei Millionen Kinder und Jugendliche. Die häufigste Ursache dieser heterogenen Gruppe von Krankheitsbildern ist eine Veränderung in den Erbanlagen. Es handelt sich meist um komplexe, schwerwiegende und oft organübergreifende Erkrankungen, die häufig eine interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Fachabteilungen erforderlich machen.

 

Bild 1:
Szene aus dem im November 2014 im Theater Combinale uraufgeführten Theaterstück ›Theater der Infamen Menschen‹, einer Kooperation zwischen der ›Agentur für Überschüsse‹, dem Verein N.E.MO., der Universität zu Lübeck und dem Theater Combinale. Die Inszenierung versuchte, Normverletzungen durch abweichendes Verhalten als Spiel, als Entwicklungsüberschuss, als ›motorisches Rauschen‹ aufzufassen und in Theater zu verwandeln. Das Stück wurde nach einer Wiederaufnahme am 15. und 16. Juni 2016 im Theater Combinale am 21., 22. und 23. Juni 2016 auch im Rahmen des ›International Parkinson and Movement Disorder Congress‹ im Ballhaus Ost in Berlin aufgeführt.