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Multiprofessionelle Intelligenz in der Medizin

Gespräch über universitäre Schwerpunkte, die eigene Agenda und die Zukunft des Campus

Herr Professor Baum, seit Anfang des Jahres sind Sie der erste Vizepräsident Medizin der Universität zu Lübeck und als solcher qua Amt UKSH-Vorstandsmitglied für Forschung und Lehre. Dementspre­chend ha­ben Sie ein Büro an der Universität und eines am UKSH. Wo halten Sie sich häufiger auf?
Physisch halte ich mich derzeit tatsächlich mehr auf dem Campus der Universität auf als in den Räumen des Universitätsklinikums; gedanklich lebe ich aber aus voller Überzeugung die Integration beider Welten. Das UKSH ist ein besonderes Universitätsklinikum; es bezieht seine Bedeutung in Forschung, Lehre und Krankenversorgung aus der Kooperation mit gleich zwei Universitäten, Lübeck und Kiel. Insofern sehe ich meine Aufgabe nicht nur im Brückenbau zwischen der Universität Lübeck und dem UKSH, sondern auch in der Weiterentwicklung der Interaktion der Stand­orte Kiel und Lübeck. Entsprechend vielfältig und lebendig haben sich die Begegnungen und Aufgaben seit meiner Ankunft Anfang des Jahres entwickelt.

Sie haben eben die Universitäten Kiel und Lübeck angesprochen. Das Verhältnis beider zueinander ist nicht immer ungetrübt. Auch hinsichtlich der Gleichbehandlung beider durch die Landespolitik gibt es durchaus Kritik. Wie wichtig ist Ihnen, gegebenenfalls vorhandene Mauern in den Köpfen einzureißen?
Von Mauern würde ich nicht sprechen, aber es gibt hier und da unnötige Schranken. Diese versuche ich durch neue kooperative Ansätze zu überwinden. Dabei nutze ich bewusst den Vorteil des Neuankömmlings. Schleswig-Holstein muss das Beste aus seinen begrenzten finanziellen Ressourcen machen. Das UKSH bietet als campusübergreifender ›Staatskonzern‹ beste Voraussetzungen zur Entwicklung von Synergien. Allerdings wirken diese allenfalls begrenzt, wenn sie von oben verordnet werden. Es geht um Teambildung. Lübeck und Kiel können zusammen mit ihrer jeweiligen Individualität mehr bewirken, als wenn man ihre Ressourcen an einem Ort vereinen würde. Gegenseitige Aner­kennung und Interesse am Erfolg des anderen schaffen eine kreative Kon­stellation, die auch für andere Bundesländer Beispielfunktion entwickeln könnte.

Selbst wenn wir das Beste aus den uns zur Verfügung stehenden begrenzten Ressourcen machen, bringen uns die Mittel, die Schleswig-Holstein in Wissenschaft und Lehre investiert, in keine komfortable Lage gegenüber den süddeutschen Ländern. Welche Alternativen zur staatlichen Finanzierung sehen Sie speziell für die Stiftungsuniversität Lübeck?
Zum einen sind da die großen wettbewerblichen Förderformate der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) oder die Programme des Bundesministeriums für Bildung und Forschung. Hier zeigt die Universität kontinuierliches Wachs­tum, bis hin zur Exzellenzstrategie des Bundes und der Länder, ein wichtiger Indikator unseres wis­senschaftlichen Erfolgs. Aber wir brauchen ohne Frage auch das Engagement der privaten Förderer und Stiftungen. Lübeck hat eine hervorragende Stifterkultur. Die Universität zu Lübeck befindet sich im permanenten Dialog mit der Gesellschaft und ist gerade wegen ihrer inhaltlichen Dynamik ein sehr geeigneter Ort für privates Engagement.

Inhaltliche Dynamik auf der einen und Spezialisierung auf der anderen Seite sind Wesensmerkmale, die die Universität zu Lübeck schon seit Jahrzehnten kennzeichnen. So hat bereits vor fünfzehn Jahren die Erichsen-Kommission analysiert, dass die Zukunft der »unvollständigen, wettbewerbsfähigen, profilierten Hochschu­le« gehöre. Glauben Sie, dass diese Feststellung auch heute noch zutrifft?
Angesichts der Fülle der offenen Fragen der Wissenschaft kann keine Hochschule universell agieren. Unabhängig von der Größe geht es darum, gemessen an den reellen Möglichkeiten und dem historisch gewachsenen, gesellschaftlich relevanten Auftrag das bestmögliche Profil zu entwickeln…

…das aber ohne Geisteswissenschaft auskommen muss, obgleich Philosophie und Ethik sowohl in der Medizin als auch in den MINT-Sektionen immer wichtiger werdende Rollen spielen.
Lübeck ist eben eine Profiluniversität rings um das Thema Medizin, die es geschafft hat, mit relativ geringen Ressourcen viele wichtige Wissenschaftsgebiete zu vereinen. Aber natürlich sind wir zunächst froh, in unserem eigenen Institut für Medizingeschichte und Wissenschaftsforschung vor Ort hervorragende Ansprechpartner zu haben, die uns die Brücke in diese wichtige Welt der Philosophie und Ethik bauen. Beispielsweise findet sich in dem aktuellen Medizinphilosophie-Lehrbuch von Prof. Borck ein sehr kluges Kapitel zur Präzisionsmedizin, das zu lesen sich für alle lohnt, die in diesem für uns be­sonders wichtigen, durch die Exzellenzprogramme der DFG geförderten Gebiet unterwegs sind. Vielleicht ist es auch gerade die verbleibende Unvollständigkeit, die Energie für Neues schafft. Ich denke dabei an unsere Kooperationen – regional mit dem Forschungszentrum Borstel, den Fraun­hofer Instituten, der CAU Kiel, national in den Deutschen Zentren der Gesundheitsforschung und Netzwerkprojekten der DFG. Stärker aufstellen müssen wir uns noch in internationalen Kooperationen.

Sie selbst waren ebenso wie Prof. Köhl, Leiter des Instituts für Systemische Entzündungs­for­schung, an der Universität von Cincinnati tätig. Werden wir in Zukunft einen intensiven Aus­tausch oder gar eine universitäre Partnerschaft mit dem renommierten Standort in den USA pflegen?
Der Erfolg wissenschaftlicher Entwicklungen zeigt sich letztlich im internationalen Austausch. Internationale Partnerschaften und Kooperationen wirken enorm stimulierend und erweitern das eigene Denken. Internationalität passt vor allem auch hervorragend zu Lübeck; denn die Stadt verdankt ihren eigenen Erfolg wesentlich dem internationalen Austausch. In der Wissenschaft geht es jedoch weniger um Waren als um Wissen und Information. Die Welt der Wissenschaft ist daher noch dynamischer als die des Handels. Die Universität muss notwendige Hilfen für die Internationalisierung bereitstellen, darunter die Erhöhung der eigenen Sichtbarkeit. Hierbei spielen auch institutionelle Partnerschaften eine Rolle. Mindestens ebenso wichtig sind die vielfältigen konkreten Kooperationen der wissenschaftlichen Akteure. Hier kann die Universität durch ein positives Profil und eine gute Willkommenskultur unterstützend wirken. Der besondere Charme Lübecks tut sein Übriges.

War es auch dieser besondere Charme Lübecks, der Sie nach Ihrer Wahl zum Vizepräsidenten sagen ließ, Lübeck sei ein kreativer Standort, der die Kern­auf­gaben der Forschung, Lehre und Krankenversorgung zu einer modernen, patientenorientierten Universitätsmedizin vereine?
Die Universität zu Lübeck hat wie keine zweite in Deutschland ein sehr smartes und zukunftsorientiertes Profil für eine moderne Medizin entwickelt. Mit der Humanmedizin, den Gesundheitswissenschaften, der Psychologie, wichtigen Domänen der Naturwissenschaften und Technik und der begleitenden starken Informatik ist ein sehr vielseitiger und zugleich fokussierter Campus entstanden, der sein Potenzial in den nächsten Jahren voll entfalten wird. Diese besondere Konstellation kommt nicht nur den Studierenden zu Gute, sie hilft auch den wissenschaftlichen Akteuren – und damit auf kurz oder lang auch den vielen Patientinnen und Patienten, die universitäre Medizin auf höchstem Niveau benötigen.

Nucleus der Universität zu Lübeck ist die Medizin. Viele Studiengänge der MINT-Sektionen haben sich in enge Beziehung zu ihr gesetzt, richten gar ihre Forschungsschwerpunkte an ihr aus. Welche Möglichkeiten sehen Sie für eine enge Zusammenarbeit zwischen Informatik und Medizin hier in Lübeck – etwa KI am Krankenbett?
Die Künstliche Intelligenz bietet dank der Fortschritte beim sogenannten Maschinellen Lernen, in der Bewältigung großer Datenmengen und der anhaltenden Steigerung verfügbarer Rechenleistungen in der Tat großes Potenzial. Aber wir brauchen eine gesunde Balance der analogen und digitalen Welten. Ich würde daher eher auf ›Multiprofessionelle Intelligenz‹ setzen, die Methoden der KI und Informatik einschließt, wo dies sinnvoll und notwendig ist. Dies bedeutet, die Informatik als Partner und nicht als Dienstleister einzubinden. Es geht dabei auch um die Akzeptanz digitaler Hilfs­mittel und Lösungen, im Alltag der Patientinnen und Patienten und im Alltag der Wissenschaft.

Herr Prof. Baum, Sie sind vom Senat auf fünf Jahre gewählt. Wo sehen Sie die Univer­sität im Jahre 2024?
In fünf Jahren sehe ich die Universität zu Lübeck als national anerkannte Impulsgeberin für eine moderne, interaktive, multiprofessionelle Medizin, die digitale und analoge Welten mit hoher Dynamik vereint und in der Nachwuchsförderung Zeichen setzt.

Welches sind Ihrer Einschätzung nach die größten und am weitestreichenden Chancen und Herausforderungen für unsere Universität gegenüber dem UKSH?
Die größten Chancen bestehen zum einen in der Weiterentwicklung der gemeinsamen Agenda für die Aus- und Weiterbildung der vielen wichtigen Berufsgruppen, die sich direkt oder indirekt in der Medizin engagieren; zum anderen in der Verflechtung der hohen grundlagenwissenschaftlichen Kompetenzen des Campus mit den wichtigen Fragestellungen, die sich aus der Behandlung der Patientinnen und Patienten ergeben. Die größte Herausforderung liegt eindeutig in den knappen Finanzmitteln des Landes. Umso wichtiger ist es zu betonen, dass aktuell und hoffentlich auch in Zukunft umfangreiche, weitsichtige Investitionen in die Infrastruktur des Campus und des Universitätsklinikums geleistet werden. Der Unicampus und der Standort Lübeck des UKSH müssen und werden sich gegenseitig stärken – hiervon werden auch die Region und unsere vielen Kooperati­onspartner profitieren, und hierzu möchte ich meinen Beitrag leisten.

Können Sie Ihre Aufgabe als Mittler im Koordinatensystem zwischen Hochschule, Hochschulmedi­zin, Krankenversorgung und Politik beschreiben?
Meine Aufgabe besteht wesentlich im Aufnehmen, Erkennen und Gestalten wichtiger Handlungsfelder und in der Verknüpfung der Akteure; also die Menschen vor Ort und ihre Partner für gute Ideen und den Mehrwert der Gemeinsamkeit zu begeistern. Meine Ausgangslage begründet sich in der Wissenschaft ebenso wie in den Bedürfnissen der Menschen, die von Krankheiten betroffen sind, für die gängige Behandlungsmethoden keine ausreichende Hilfe bieten. Über den Standort hinaus geht es mir auch um Fragen der Wissenschafts- und Gesundheitspolitik.

Welche Impulse wollen Sie dabei setzen?
Es geht darum, die Themenfelder zu identifizieren und zu stärken, in denen unsere etablierten Stärken die besten Synergien entfalten. Aktuell geht es beispielsweise um unsere Aufstellung in der Medizininformatik und der Krebsmedizin. Aber nicht nur darum. Das Smarte an Lübeck ist, dass unser akademisches und klini­sches Umfeld auch für viele weitere Gebiete große Chancen bietet. Gute Impulse sind insbeson­dere die, die viele gemeinsam setzen.

Sie haben in den vergangenen Jahren die Entwicklung der Medizinischen Hochschule Hannover als Präsident maßgeblich geprägt. Die MHH ist exzellent aufge­stellt, es besteht sogar die Möglichkeit, mit jetzt vier Exzellenzclustern von Leibniz-Universität und MHH Eliteuniversität zu werden. Welches sind Ihrer Meinung nach Zukunftsthemen für unsere lebenswissenschaftlich ausgerichtete Universität, die ebenfalls ein großes Potential bergen?
Die etablierten Forschungsschwerpunkte der Universität wurden hervorragend gewählt und bieten in ihrer Konstellation ein echtes Alleinstellungsmerkmal: Gehirn, Hormone und Verhalten, daneben Infektion und Entzündung, und als dritte Säule die Medizintechnik. Als besonderes Lübecker Thema, das ich eben schon kurz angerissen habe, kristallisiert sich etwas heraus, das ›multiprofessionelle Intelligenz‹ heißen könnte; darin steckt auch eine gute Portion künstliche Intelligenz, gepaart mit den Stärken der vielen Professionen, die für gute Medizin allesamt notwendig sind.

Die vielen Professionen, die in einer guten Medizin exzellent miteinander kooperieren müssen, bilden wir allesamt mit dem nun vervollständigten Angebot gesundheitswissenschaftlicher Studiengänge an unserer Universität aus. Damit haben wir ein Alleinstellungsmerkmal. Wie können Sie als Vizepräsident Medizin dar­auf hinwirken, dass der moderne Ansatz der Interprofessionalität nicht nur im Studium, sondern auch im Klinikalltag umgesetzt und zu positiven Ergebnissen für Patienten, Wissenschaftler und Kollegen führt?
Dies ist eine besondere Herausforderung, die den gesamten Vorstand des UKSH und alle klinischen Abteilungen betrifft. Im Studium der Humanmedizin sehe ich in den sog. Famulaturen und im abschließenden Praktischen Jahr die besten Optionen für den interprofessionellen Austausch. Angehende Ärztinnen und Ärzte können den Respekt vor den anderen für den Behandlungserfolg notwendigen Berufsgruppen am besten entwickeln, wenn sie sich als Teil eines Teams begreifen und auch verstehen, an welcher Stelle andere Berufsgruppen mehr beitragen können als sie selbst. In den Kliniken und Ambulanzen entwickelt sich als paradoxer Effekt der zunehmenden Spezialisierung zunehmend eine Kultur der Interdisziplinarität und Interprofessionalität. Am weitesten ist man hier in der Krebsmedizin, beispielsweise in unserem Onkologischen Zentrum, das solche wichtigen Interaktionen durch qualitätsgesicherte Prozesse in der Routine realisiert.

Junge Menschen liegen Ihnen sehr am Herzen. Sie sprechen sich als Initiator des ›Freiwilligen Jahres in der Wissenschaft‹ (FWJ) für Talentförderung und Orientierungsmaßnahmen aus. In welchen Bereichen an unserer Universität sehen Sie Möglichkeiten, durch ein FWJ junge Menschen auch an ein Studium in Lü­beck heranzuführen?
Das FWJ ist ein hervorragendes Instrument, um junge Menschen für wissenschaftliche Aufgaben in der Medizin und den Naturwissenschaften zu begeistern. Direkt nach dem Abitur für ein Jahr in ein wissenschaftliches, oftmals internationales Team integriert zu werden, schafft einen ganz neuen Blick auf die Welt im Allgemeinen und die Chancen der wissenschaftsgeleiteten Studiengänge im Besonderen. Das FWJ stellt dabei hohe Anforderungen an die Bereitschaft, sich nicht durch eigene Fehler entmutigen zu lassen, sondern aus ihnen zu lernen. Als besonders geeignet für das FWJ sehe ich unsere molekularbiologischen und technischen Arbeitsgruppen. Ich kann mir aber auch in der Epidemiologie, Versorgungsforschung oder Informatik gute Einsatzgebiete vorstellen.

Lieber Herr Baum, ich danke Ihnen für das Gespräch und wünsche Ihnen viel Erfolg bei Ihren Aufgaben.


Das Gespräch mit Prof. Christopher Baum führte Dr. Stefan Braun.

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