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Ethik als Grundlage wissenschaftlicher Avantgarde

Über die Rolle der Ethik im Wissenschaftsbetrieb – nicht nur an der Universität zu Lübeck

Herr Rehmann-Sutter, Sie sind seit zehn Jahren Professor für Theorie und Ethik in den Biowissen­schaften an der Universität zu Lübeck und waren zuvor fast ebenso lange Präsident der schweize­rischen Ethikkommission im Bereich der Humanmedizin. Wenn Sie die vergangenen Jahre Revue passieren lassen, haben Sie da den Eindruck, dass ethisch-moralische Fragen in den Wissenschaften insgesamt tatsächlich noch eine entscheidende Rolle spielen? Zwar gibt es Ethikkommissionen auf unter­schiedlichen Ebenen, und es wird hier leidenschaftlich darüber diskutiert, ob neben der zivilen auch militärische Forschung an Universitäten betrieben werden darf. Zugleich drängt sich mir aber der Eindruck auf, dass letztlich doch alles, was möglich ist, erforscht wird – ohne Rücksicht auf die ethischen Leitplanken – etwa im vergangenen Jahr der heftig diskutierte Fall der genveränderten Zwillinge in China.
Das Beispiel der chinesischen Zwillinge ist vielleicht ganz gut, um zu erkennen, wie ethische Fragen in den Wissenschaften heute tatsächlich vorkommen. Es stimmt zwar, dass der betreffende Forscher (Dr. He) auch in China anerkannte Standards verletzt hat. Die von ihm angewendete Technik ist nicht sicher genug. Er hat den Eltern nicht reinen Wein eingeschenkt, um ihre Zustimmung zu erhalten. Einen Embryo genetisch zu manipulieren und ihn in die Gebärmutter zu transferieren, ist auch in China verboten. Solche Grenzverletzungen in der Forschung sind leider kein Einzelfall. Es gibt ganze Bücher über Forschungsskandale in der Zeit nach dem zweiten Weltkrieg, als eigentlich mit dem Nürnberger Codex von 1947 in Bezug auf die vorausgegangenen nationalsozialistischen Menschenversuche und 1964 mit der Deklaration von Helsinki die ethischen Standards geklärt waren. Also insofern ist die Skepsis, die Sie äußern, völlig angebracht.

Aber der Fall von Dr. He hat zu einer weltweit geführten Diskussion beigetragen, ob es ethisch vertretbar sei, mit solchen Genscheren gewisse krankmachende Mutationen zu korrigieren oder die Abwehrfunktionen des Körpers zu verstärken. Diese Diskussion ist seit ein paar Jahren wieder neu aufgeflammt, seit das CRISPR-Cas9-System entdeckt wurde und damit viel präzisere Eingriffsmöglichkeiten zur Verfügung stehen. Theoretisch hat man sich diese Fragen allerdings schon seit den 80er Jahren gestellt – seit der Entdeckung der Restriktionsenzyme und seitdem die rekombinante Gentechnik entwickelt wurde. Es gibt also eine ausgedehnte Diskussion um Forschungsethik, die einen zentralen Teil der Bioethik ausmacht. Es gibt ein Bedürfnis der meisten Forschenden selbst, es richtig zu machen, die Ethikkommissionen zu berücksichtigen etc., um auch öffentliche Anerkennung zu erhalten.

Und auf der anderen Seite gibt es, wie Sie natürlich völlig richtig sagen, militärische Forschung, und es gibt die Industrie. Beides sind Forschungskontexte, in denen naturgemäß keine Transparenz in der Öffentlichkeit besteht, oder nur sehr eingeschränkt. Für mich ist es jetzt einmal sekundär, ob diese Forschungen an Universitäten betrieben werden oder in anderen Instituten. Das Problem ist, Wege zu finden, wie es möglich ist, auch in diesen nur sehr eingeschränkt öffentlich kontrollierbaren Forschungskontexten ethische Standards durchzusetzen. Dazu sind zweifellos Gesetze wichtig, die dann eben auch von der militärischen Forschung (Staat) oder von der Industrie eingehalten werden müssen.

In Fragen der Ethik ist die westliche Hemisphäre stark von der jüdisch-christlichen Kultur und deren Menschenbild geprägt. Gereicht uns das jetzt nicht zum Nachteil in der Forschung? Wird Wissen­schaft nicht in einem erheblichen Maße eingeschränkt, wenn Barrieren eingezogen werden, deren Begründung nur einer immer geringer werdenden Zahl von Personen überhaupt noch einleuchtend er­scheint?
Das ist für mich ein viel zu wenig differenziertes Bild. Es gibt nicht ein Menschenbild der jüdisch-christlichen Kultur, das dann einengend wirkt. Es gibt vielmehr eine Vielfalt von
Strömungen und Auslegungen. Und die Geschichte ist durch sie geprägt, auch die Kämpfe zwischen ihnen. Vieles von dem, was Amtskirchen als ewig gültig priesen, war auch staatstragend und machterhaltend. Das muss man alles kritisch betrachten. Es gibt aber heute eine lebendige Theologie, die diese kritische Auseinandersetzung führt. Die europäische Kultur ist von religiösen Auseinandersetzungen nicht nur geprägt, oft auch im Negativen, wenn ich an Kreuzzüge, Religionskriege, an die Unterdrückung von Andersgläubigen, an den christlich legitimierten Kolonialismus oder an das Schweigen der Amtskirchen im Nationalsozialismus denke. Aber die europäische Kultur war und ist auch von religiösen Idealen beflügelt. Es gäbe keine modernen Wissenschaften ohne sie. Die Idee, dass Menschen zählen, dass sie eine eigene Würde haben, und zwar jeder einzelne von ihnen, ohne dass er sich dafür zuerst rechtfertigen muss, der Kampf
dafür, dass ihre Bedürfnisse wichtig sind, dass sie uns etwas angehen, das ist alles keine Einengung der Forschung. Es ist kein Nachteil. Ganz im Gegenteil, die Stellungnahme gegen die Ungerechtigkeit, gegen die Menschenverachtung und gegen das Zerstören von Lebensmöglichkeiten der zukünftigen Generationen ist ein Motiv, das die Forschung orientieren kann und sie weiterbringt.

Auch Wissenschaftskritik hat aber darin ihren Platz. Es ist z.B. heute wichtig, gegenüber einer reduktionistischen Deutung der Neurowissenschaften daran festzuhalten, dass wir Menschen keine Computer, also letztlich keine Maschinen sind. Denn, das ist für mich der entscheidende Grund, diese wären zur Verantwortung nicht fähig. Eine Maschine funktioniert, ohne sich anderen gegenüber rechtfertigen zu müssen. Wir Menschen müssen uns anderen gegenüber rechtfertigen. Wenn wir so töricht sind, uns selbst als Maschine zu deuten, geben wir gerade das auf, was uns zu Menschen macht.

Kurz gefragt: Können Wissenschaft und Forschung mit unserem Ethikbegriff in der Zukunft überhaupt noch Avantgarde der Gesellschaft sein?
Ja, gerade mit der Ethik können sie Avantgarde sein. Wenn sie ohne Ethik auskommen wollen, versinken sie im Zwielicht. Aber Ethik ist ja nicht nur Einschränkung, sie ist nicht starr. Sie muss vielmehr eine lebendige Diskussion sein, die anregt und weiterführt.

Ethik ist auch wichtig dafür, zu erkennen, welches die gesellschaftlich wichtigen Themen sind, die mit Hilfe von Forschung bearbeitet und geklärt werden müssen. Denken Sie zum Beispiel an die Klimakrise. Wissenschaft und Forschung sind genau dann weiterführend, wenn sie nicht bloß immer nochmals neue, systemerhaltende Technologien zum Nutzen der Industrie entwickeln, sondern wenn sie Themen aufgreifen, die gesellschaftlich wichtig sind, weil Menschen und anderes Leben auf der Erde betroffen sind. Ich würde sagen, es ist ein ethischer Impuls, der die Wissenschaft und die Forschung anleitet, wenn sie problemorientiert vorgeht und dabei ihre gesellschaftliche Verantwortung wahrnimmt.

Herr Rehmann-Sutter, Danke für das Gespräch.

Das Interview mit Prof. Dr. Christoph Rehmann-Sutter führte Dr. Stefan Braun.

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