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Forschungsziele

Replace

Dr. rer. nat. Philip Seibler,
Melissa Vos, PhD.,
Prof. Dr. med. Christine Klein

Institut für Neurogenetik, Universität zu Lübeck

An der Universität Lübeck wurde und wird viel darüber nachgedacht, wie Tierversuche zu ersetzen sind. Dieser Mechanismus – in der Forschung „Replace“ genannt – hat dazu geführt, dass an unserer Universität einige Tierversuche, die sonst an Wirbeltieren durchgeführt werden, durch Forschung mit humanen Zellmodellen und Fruchtfliegen ersetzt werden konnten. Außerdem wird weiter geforscht: Versuche mit gewebeähnlichen 3D-Strukturen sind zukunftsweisend.

Fruchtfliegen in der Parkinson-Forschung

Obwohl die Fruchtfliege Drosophila und der Mensch äußerlich nicht viel gemeinsam haben, kommen ungefähr 60 Prozent der Fliegen-Gene beim Menschen in ähnlicher Form vor. Aus diesem Grund ist es möglich, wichtige wissenschaftliche Experimente in einigen Bereichen mithilfe der Fruchtfliege durchzuführen und auf Wirbeltiere wie z.B. Mäuse zu verzichten. Am Institut für Neurogenetik nutzen wir deshalb für einige Versuche die Fruchtfliege Drosophila.

Viele Erkenntnisse kann man aus Tierstudien ableiten. Das hat zu einem detaillierten mechanistischen Verständnis vieler menschlicher Krankheiten geführt. Wir erforschen erbliche Faktoren von neurologischen Bewegungs­störungen, zu denen auch die Parkinson-Erkrankung gehört. Bei dieser Erkrankung ist das zentrale Nervensystem betroffen. Die Nachbildung und Modellierung biologischer Prozesse des menschlichen Gehirns sind sehr herausfordernd.

Aber schon einfachere Organismen können wichtige Hinweise darauf liefern, wie ein (patho-)physiologischer Vorgang in Säugetieren oder dem Menschen ablaufen könnte. Diese Unterscheidung bildet die Grundlage für die Ent­scheidung, ob wir auf „höhere“ Lebewesen verzichten können – ob wir Versuche also z.B. auch mit Zellen oder Fruchtfliegen durchführen können.

Die Fruchtfliege (Abb. 2) ist eine kleine Fliege, die vielen vor allem als lästiger Schädling im Sommer bekannt ist. Dabei ist diese Fliege für die wissen­schaftliche Forschung enorm wertvoll. Obwohl das Gehirn dieser Fliegen relativ einfach aufgebaut ist, laufen viele neurologische Prozesse in einer Weise ab, die mit dem menschlichen Gehirn vergleichbar ist. Außerdem haben sie einen kurzen Lebenszyklus von nur 10 Tagen, in denen sich ein befruchtetes Ei zu einer erwachsenen Fliege entwickelt. In kurzer Zeit können somit Fliegen erzeugt werden, die spezifische Gendefekte tragen, mit denen Krankheiten nachgeahmt werden können.

Dies ist auch bei der Parkinson-Krankheit der Fall. Diese Bewegungsstörung ist das Ergebnis der Degeneration bestimmter Nervenzellen, nämlich der dopaminergen Neuronen. Bei einem Teil dieser Patienten ist die Ursache ein Gendefekt, den wir bei der Fruchtfliege nachahmen können. Auch diese "Parkinson-Fliegen" zeigen Bewegungsstörungen und einen Verlust an dopaminergen Neuronen. Unter anderem dank der Forschung an der Frucht­fliege wissen wir bereits, dass die Parkinson-Krankheit Probleme im Energiestoffwechsel verursacht. Die sogenannten Mitochondrien sind die Energiefabriken der Zellen und weisen verschiedene Defekte auf (Vos et al., 2012).

Natürlich müssen die Erkenntnisse aus der Forschung an der Fruchtfliege anschließend in einem dem Menschen näheren System überprüft und bestätigt werden. Hierfür verwendet die Forschung sehr häufig Mäuse. Es können aber auch bei bestimmten Fragestellungen Zellen von Patienten gewählt werden, die den Vorteil haben, dass sie direkt vom Patienten stammen. Die Kombination von Forschung an Fliegen zur Untersuchung der Gesamtprozesse in einem Organismus zusammen mit der Forschung an Zellen, die von Patienten stammen, ist ideal, um den Einsatz von höheren Tieren wie Mäusen, Ratten oder Primaten so weit wie möglich zu reduzieren.

Versuche mit humanen Zellmodellen

Um Krankheitsmechanismen erblich bedingter neurologischer Erkrankungen in einem humanen und biologisch relevanten Zellsystem zu untersuchen, verwendet die Arbeitsgruppe "Angewandte Stammzellbiologie" unter Leitung von Dr. Seibler induzierte pluripotente Stammzellen (iPS-Zellen). Diese iPS-Zellen können direkt aus Hautzellen von Patienten in den pluripotenten Zustand reprogrammiert und in einem zweiten Schritt in krankheitsrelevante Gewebe, wie z. B. Nervenzellen differenziert werden (Abb. 1). Auf diese Weise haben wir auch die bei der Parkinson’schen Krankheit betroffenen dopaminergen Nervenzellen des Mittelhirns aus iPS-Zellen der Patienten generiert. Bei Laboranalysen zeigen diese Nervenzellen im Vergleich zu Nervenzellen von gesunden Individuen Erscheinungsformen, die Rückschlüsse auf die pathologischen Mechanismen der Krankheit zulassen (Seibler et al., 2011). Dadurch wird ein Modell geschaffen, das den gesamten genetischen Kontext des Patienten unter physiologischen Bedingungen im betroffenen Zelltyp darstellt; ein personalisiertes Krankheitsmodell, das auch für Medikamenten­tests verwendet werden kann und damit neue Wege für die Entwicklung personalisierter Behandlungsstrategien eröffnet. Ihre Erkenntnisse über iPS-Zellen, die einige Tierversuche ersetzen können, gewannen die Forscher durch den Einsatz von Mäusen. Für die Entdeckung der iPS-Technologie erhielten Shinya Yamanaka und John Gurdon nur sechs Jahre nach ihrer Erstbeschreibung den Nobelpreis für Medizin 2012.

Weiterentwicklung: Versuche mit gewebeähnlichen 3D-Strukturen

Eine spannende Weiterentwicklung der iPS-Technologie ist Generierung von gewebeähnlichen 3D-Strukturen, sog. Organoide, die das Potenzial haben, Einschränkungen von 2D-Zelllinien- und Tierstudien zu überwinden. Humane Gehirn-Organoide sind durch verschiedene diskrete, aber voneinander abhängige Hirnregionen gekennzeichnet, die einen ganz neuen Zugang zu humanen Nervenzellsystemen geben. In Verbindung mit weiteren Techniken sollen damit die ursächlichen Mechanismen und Parameter erforscht werden, die dazu führen, dass Zellen von einem gesunden in einen kranken Zustand übergehen. Die Entwicklung der Organoid-Technologie steht allerdings noch relativ am Anfang, und es sind noch einige Herausforderungen zu bewältigen (Tran et al., 2020).

Die erblichen Formen der Parkinsonerkrankung sind ein eindrucksvolles Beispiel, bei dem Untersuchungen an der Fruchtfliege das mechanistische Verständnis ganz besonders befördert haben. Dies gilt in ähnlicher Weise für die Untersuchung von spezifischen humanen Zellmodellen – beide sind daher ein gutes Beispiel von „replace“ klassischer tierexperimenteller Forschung an Säugetieren.

 

Quellenangaben:

Seibler P, Graziotto J, Jeong H, Simunovic F, Klein C, Krainc D. Mitochondrial Parkin Recruitment Is Impaired in Neurons Derived from Mutant PINK1 Induced Pluripotent Stem Cells. J Neurosci. 2011;31:5970-5976.

Tran F, Klein C, Arlt A, Imm S, Knappe E, Simmons A, Rosenstiel P, Seibler P. Stem Cells and Organoid Technology in Precision Medicine in Inflammation: Are We There Yet? Front Immunol. 2020;11:573562.

Vos M, Esposito G, Edirisinghe JN, Vilain S, Haddad DM, Slabbaert JR, Van Meensel S, Schaap O, De Strooper B, Meganathan R, Morais VA, Verstreken P. (2012) Vitamin K2 is a mitochondrial electron carrier that rescues pink1 deficiency. Science 336:1306-10.

Vos M, Klein C. The importance of Drosophila melanogaster research to uncover cellular pathways underlying Parkinson’s disease. Cells, im Druck.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 


Abbildung
1.
Nervenzellen einer Patientin mit einer erblichen Bewegungsstörung, generiert aus iPS-Zellen. Die Zellen wurden durch Immunfluoreszenz mit spezifischen Markern von Nervenzellen (rot) und des Mittelhirns (grün) angefärbt.

 

 

Abbildung 2.
Der Kopf der Fruchtfliege, visualisiert durch Autofluoreszenz. Das weiße Quadrat stellt den Bereich dar, der vergrößert und im rechten Bild angezeigt wird.