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Montag, 26.03.2001

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Neue Chancen für Borderline-Patienten

MUL mit speziellem Behandlungsangebot bei schweren Persönlichkeitsstörungen

Sie suchen Entlastung von einem extremen inneren Druck. Und weil sie diese im Alltag nicht finden, zerschneiden sich Menschen mit so genannten Borderline-Persönlichkeitsstörungen die Arme, drücken Zigaretten auf ihrem Körper aus, verweigern die Nahrungsaufnahme oder essen bis zum Brechanfall, schlucken Alkohol und Tabletten bis zur Besinnungslosigkeit. Das nur wenig bekannte Krankheitsbild ist dennoch weit verbreitet: Rund ein Prozent der Bevölkerung erkrankt daran; 20 Prozent aller Krankenhausaufnahmen im psychiatrischen Bereich stehen mit entsprechenden Symptomen im Zusammenhang. "Damit gehören Borderline-Störungen von der Häufigkeit her zu den ganz großen psychischen Erkrankungen", erklärt Prof. Fritz Hohagen, Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie an der Medizinischen Universität Lübeck (MUL). Aufgrund wachsender Patientenzahlen wurde in Lübeck ein Behandlungsschwerpunkt für Borderline-Patienten eingerichtet: Die 19 Therapieplätze umfassende Station ist die größte ihrer Art in Deutschland.

Der Ende der 30er Jahre geprägte Begriff Borderline ("Grenzlinie") geht auf den amerikanischen Psychoanalytiker William Louis Stern zurück. Er charakterisierte damit psychische Beeinträchtigungen, die zwischen Neurose und Psychose schwanken. Heute gelten Borderline-Störungen als eigenständiges Krankheitsbild; man definiert sie über die Instabilität von Gefühlen und Verhalten. Nur ein Viertel der Patienten ist männlich, betroffen sind meist Mädchen und Frauen zwischen 15 und 25.

Als Kind wurde Jennifer (Name geändert) jahrelang von ihren Eltern körperlich gepeinigt. Sie litt unter starken Angstzuständen, hatte früh ersten Kontakt zu kinder- und jugendpsychiatrischen Einrichtungen. Mit elf fing sie an zu fasten, mit 13 begann sie, sich selbst zu verletzen. "Anfangs waren es nur oberflächliche Ritzer mit Nagelschere und Küchenmesser", erinnert sie sich. Doch als das Messer einmal abrutschte und eine tiefe, klaffende Wunde hinterließ, verspürte sie "ein geniales Gefühl". Jennifer: "Es war völlig befreiend zu sehen, wie das Blut fließt. Von da an musste es immer so sein." Und das ging am besten mit Rasierklingen.

Der Drang, sich selbst zu schädigen, hat nichts mit Masochismus zu tun, denn das Schmerzempfinden ist in dieser Phase deutlich reduziert. Vielmehr geht es Betroffenen wie Jennifer darum, die in Folge psychischer Konflikte aufgebauten unerträglichen Spannungen im Kopf zu lindern. Dies macht jeder auf seine Art: Neben Fressanfällen, Selbstverletzungen oder Alkoholexzessen gelten auch sogenanntes S-Bahn-Surfen und extrem schnelles Motorrad- und Autofahren als mögliche Borderline-Symptome.

Heute ist Jennifer eine junge Frau von 25. Die Hälfte ihres Lebens hat sie sich selbst malträtiert, über 1000 Schnittverletzungen zugefügt. Ihre Unterarme gleichen Kraterlandschaften, sehen aus wie nach einem schweren Brandunfall: Wulstige, zentimeterlange Narbenhügel wechseln sich mit unzähligen, kleineren Schnitten ab. Fachgerecht behandelt wurden nur die wenigsten. "Meistens habe ich mir einfach Tesafilm oder Leukoplast auf die Wunden geklebt", erzählt sie.

Seit knapp zwei Jahren kommt Jennifer, die kurz vor dem Abitur die Schule geschmissen hat und beruflich niemals Fuß fassen konnte, regelmäßig in die Psychiatrische Klinik der MUL. Sie gehört zu einer Patientengruppe, die ein von Lübecker Wissenschaftlern entwickeltes, neues Therapieschema in Anspruch nimmt. "In Anlehnung an die dialektisch-behavoriale Therapie von Marsha Linehan haben wir unserem Konzept Bausteine hinzugefügt, mit denen vor allem schwer kranken Patienten geholfen werden kann", erläutert Oberarzt PD Dr. Ulrich Schweiger.

Entsprechend dem Entwurf der Psychologieprofessorin Linehan aus Seattle/USA gilt es zunächst, dass die Patienten freiwillig mit dem selbstschädigenden Verhalten aufhören. "Alternativen erlernen, mit ihren Spannungen umzugehen, können die Betroffenen nur dann, wenn sie sich nicht mehr dauernd selbst verletzen, exzessiv hungern oder übermäßig Drogen konsumieren", sagt Schweiger, der die Station mit Psychologin Valerija Sipos leitet. Deshalb werden gezielte Verhaltensverträge zwischen Patient und Therapeut abgeschlossen, außerdem Hilfen zur psychischen Stabilisierung angeboten.

Dieser Freiraum kann dann genutzt werden, um Strategien zur Spannungsbewältigung zu vermitteln und neue, erwünschte Verhaltensweisen einzuüben. Dazu werden in Lübeck zusätzlich fünf Module eingesetzt:

  1. Selbstmanagement: Die Patienten werden Experten in eigener Sache, erfahren alles über ihr Krankheitsbild. Sie beginnen zu verstehen, warum sie sich in bestimmten Situationen so verhalten und welche Konsequenzen dies für sie hat. 
  2. Stresstoleranz: In Rollenspielen und Gruppengesprächen lernen sie, mit belastenden Spannungssituationen anders umzugehen.
  3. Emotionsmanagement: Hier erfahren sie alles über Gefühle. Borderline-Patienten kennen meist nur "gut" und "schlecht", können mit differenzierten Gefühlen anderer nicht umgehen. Partnerschaftliche Beziehungen sind oft sehr anstrengend, wechseln abrupt zwischen extremer Nähe und hasserfüllter Distanz.
  4. Soziale Kompetenz: Lernen "Nein!" zu sagen. Patienten mit Borderline-Störungen schalten ihre "innere Alarmanlage" aus und können nicht zwischen harmlosen und gefährlichen Situationen unterscheiden. Oft äußert sich dies in dem Wunsch, es allen, auch unbekannten Menschen, Recht machen zu wollen.
  5. Achtsamkeit: Borderline-Patienten sind häufig fahrig und wie aufgeputscht. Mit Entspannungs- und Meditationstraining lernen sie, sich auf eine Sache zu konzentrieren. 

Außerdem werden begleitende psychische Erkrankungen (z.B. Depressionen, Angst- und Essstörungen), die bei den meisten Patienten vorhanden sind, mit speziellen Angeboten in die Therapie eingebunden. So verfügt die Klinik über eine Lehrküche, in der die Betroffenen "normales" Essverhalten üben, und bietet Selbstverteidigungskurse an, in dem die meist weiblichen Patienten trainieren, sich effektiv zu wehren.

In der dritten Therapiephase wird das Erlernte in den Alltag übertragen. Ziel der Behandlung ist es, dass die Betroffenen im sozialen Alltag, in ihrer Familie, im Freundes- und Bekanntenkreis, in der Partnerschaft besser zurecht kommen, dass sie es schaffen, einen Ausbildungs- oder Arbeitsplatz (wieder) aufzunehmen. Unterstützung bekommen sie hierbei von den MUL-Therapeuten. Oberarzt Schweiger vergleicht das Verhältnis zwischen Patienten und Therapeuten mit dem eines Bergführers und eines Bergsteigers: "Der Bergführer kennt die Wege zum Gipfel. Doch gehen muss jeder selbst. Und jeder entscheidet selbst, in welchem Tempo und wie weit er gehen möchte."

Die durchschnittlich 12wöchige stationäre Therapie in Lübeck verzeichnet gute Erfolge: Bei mehr als der Hälfte der Betroffenen gehen die Symptome erheblich zurück und die soziale Anpassung verbessert sich deutlich, bilanziert Dr. Schweiger. Eine Hoffnung bleibt allen: Mit zunehmendem Alter wächst sich die Krankheit offensichtlich aus - jenseits der 40 werden Borderline-Symptome selten.

Auch Jennifer ist zuversichtlich: Statt täglich greift sie "nur" noch alle vier bis sechs Wochen zur Rasierklinge; ihre Ängste hat sie soweit in den Griff bekommen, dass sie allein einkaufen oder ins Café gehen kann, ihr extrem niedriges Körpergewicht von 33 auf 52 Kilogramm gesteigert. Ihr größter Wunsch? "Irgendwann möchte ich auf eigenen Beinen stehen, mein Leben selbst meistern und eine richtige Ausbildung machen."

Beim 4. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN), der unter Leitung von Prof. Hohagen vom 4. bis 7. April in Lübeck stattfindet, steht die Behandlung von Borderline-Persönlichkeitsstörungen auf der Tagesordnung. Eine Pressekonferenz ist geplant. Weitere Informationen: Prof. Fritz Hohagen, Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Tel.: 0451/500 2441.

Uwe Groenewold

Hintergrund: Borderline-Patienten - Die Symptome

Selbstverletzte Unterarme einer Borderline-Patientin (Photo: hanse press)

Selbstverletzte Unterarme einer Borderline-Patientin (Photo: hanse press)

Prof. Dr. med. Fritz Hohagen, Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der MUL (Photo: hanse press)

Prof. Dr. med. Fritz Hohagen, Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der MUL (Photo: hanse press)