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Donnerstag, 09.04.2020

Forschung

Geburtsmedizin und Geburtshilfe Hand in Hand

Foto © Kzenon / AdobeStock

In Lübeck startet die gemeinsame Erprobung eines interprofessionellen Stufenkonzepts zur risikoadaptierten Schwangerenbetreuung

Unter dem Titel „Geburtsmedizin und Geburtshilfe Hand in Hand“ erproben die Universität zu Lübeck und das Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, Campus Lübeck, ein interprofessionelles Stufenkonzept zur risikoadaptierten Schwangerenbetreuung. Für ihr Projekt „NesT - Natürlich, evidenzbasiert und sicher im Team“ erhielten der Fachbereich Hebammenwissenschaft am Institut für Gesundheitswissenschaften und die Klinik für Frauenheilkunde und Geburtshilfe jetzt die Förderzusage des schleswig-holsteinischen Gesundheitsministeriums.

Das Ministerium fördert das Projekt ab 1. April 2020 bis 31. März 2023 mit einer Summe von gut 446.000 Euro. Projektverantwortliche sind Prof. Dr. Christiane Schwarz, Professur für Hebammenwissenschaft, sowie Klinikdirektor Prof. Dr. Achim Rody und Dr. Verena Boßung aus der Klinik für Frauenheilkunde und Geburtshilfe.

An der Universität zu Lübeck studieren angehende Hebammen seit dem Wintersemester 2017/18 in Deutschlands erstem universitären dualen Bachelorstudiengang (Dauer des Studiums: vier Jahre). Die praktische Ausbildung findet derzeit für zehn Studentinnen pro Jahrgang am Universitätsklinikum in Lübeck statt. Die ersten Absolventinnen werden für Sommer 2021 erwartet. Es besteht im Rahmen des neuen Versorgungskonzepts die Möglichkeit, begleitende Forschung, Lehre, und praktische interprofessionelle Ausbildung miteinander zu verzahnen.

In Deutschland finden 98 Prozent der Geburten in einem Krankenhaus statt. Viele Schwangere ohne Geburtsrisiken wählen auf der Suche nach Sicherheit für ihre Geburt ein Perinatalzentrum. Die personellen und räumlichen Kapazitäten der Perinatalzentren werden dabei immer wieder überschritten, Schwangere und ihre ungeborenen Kinder werden in Großstädten bereits heute regelmäßig abgewiesen. Gleichzeitig wird eine potenzielle Überversorgung von Gebärenden ohne oder mit geringem Risiko festgestellt. Das Bedürfnis von Frauen nach einer interventionsarmen, natürlichen Geburt wird nur unzureichend erfüllt. Viele Hebammen verlassen ihren Beruf, da die Arbeitsbedingungen in großen Abteilungen als belastend und unbefriedigend erlebt werden, was zu schweren Personalengpässen führt.

Lösungsweg für aktuelle Versorgungsprobleme

Das Projekt „NesT - Natürlich, evidenzbasiert und sicher im Team“ bietet einen Lösungs-weg für die aktuellen Strukturprobleme in der geburtshilflichen Versorgung in (Nord-) Deutschland. Es orientiert sich an erfolgreichen internationalen Vorbildern. Basis ist die Unterteilung der bestehenden universitären geburtshilflichen Abteilung am Universitätsklinikum in Lübeck in einen „Bereich Geburtsmedizin“, der dem jetzigen Versorgungskonzept entspricht, und einen hebammengeleiteten „Bereich Geburtshilfe“. In räumlicher Abgrenzung von der Geburtsmedizin entsteht ein personell und organisatorisch autonomer geburtshilflicher Bereich.

Die Universität profitiert von der engen Kooperation zwischen Geburtshilfe und Geburtsmedizin. Diese hat auch Vorteile in der gemeinsamen Ausbildung sowohl von Hebammen als auch von Ärztinnen und Ärzten, die Seite an Seite Physiologie und Pathologie von Schwangerschaft und Geburt erlernen können. Zudem erfolgt eine wissenschaftliche Begleitung dieser in Deutschland einzigartigen Versorgungsform, welche ein wegweisendes Konzept für andere Regionen Deutschlands sein kann.

Mit seinem Pilotcharakter kann das Projekt als Leuchtturm für andere Zentren in Schleswig-Holstein und anderen Bundesländern dienen. Hebammengeleitete Einrichtungen können die Grundversorgung von risikoarmen Schwangeren übernehmen. Eingebettet in eine große Universitätsklinik existiert bei unserem Modell ein Sicherheitsnetz durch die vorhandene Infrastruktur für unvorhergesehene Notfälle. So kann eine individuelle und interventionsarme Geburtshilfe in einer zentralisierten Krankenhauslandschaft sicher realisiert werden.

Deutschlandweit erster universitärer Studiengang Hebammenwissenschaft

Eine fundierte wissenschaftliche Begleitung des Projekts ist essenziell, um es weiter zu entwickeln und auch auf andere Regionen Deutschlands anzupassen. Die Beteiligten halten die neue interprofessionelle Versorgungsform für ein wegweisendes Konzept, das eine Vielzahl an aktuellen Strukturproblemen adressiert. Gerade jetzt, da die Hebammenausbildung in Deutschland durch das Hebammenreformgesetz neu ausgerichtet wird und in Lübeck der erste duale Studiengang an einer Universität besteht, an der Ärztinnen/Ärzte und Hebammen gemeinsam lernen und forschen, sind Zeitpunkt und Ort für ein solches interprofessionelles und innovatives Versorgungsprojekt optimal.

Als Qualitätsindikatoren ließen sich bei der wissenschaftlichen Begleitevaluation beispielsweise folgende Fragestellungen untersuchen: Unterscheidet sich die Rekrutierung und Retention von Hebammen für dieses Arbeitskonzept vom „herkömmlichen“ Kreißsaal? Wie hoch sind die Verlegungsraten in die Geburtsmedizin und die Kinderklinik? Wie hoch ist die Rate an interventionsfreien Geburten? Wie ist die Mitarbeiterinnen- und Mitarbeiterzufriedenheit? Wie ist die Patientinnenzufriedenheit? Welche ökonomischen Implikationen hat das Projekt? Was motiviert Gebärende, diese Betreuungsform zu wählen?

Das Konzept der hebammengeleiteten Geburtshilfe ist im internationalen Ausland schon etablierter als in Deutschland. Für Europa existiert ein “Midwifery Unit Network”, dessen Ziel es ist die Entwicklung und das Wachstum von hebammengeleiteten Geburtseinrichtungen als Grundversorger für risikoarme Schwangere europaweit zu unterstützen. Der Zugang zu diesen Einheiten soll für alle Schwangeren unkompliziert möglich sein. Das Netzwerk stellt umfangreiche wissenschaftliche Publikationen und bereits etablierte Standards für neue Zentren zur Verfügung.