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Dienstag, 04.03.2003

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Einmaliges Schulungsprogramm für epilepsiekranke Kinder und deren Eltern

Flip und Flap, die quietschfidelen Nervenzellen

Flip und Flap, die quietschfidelen Nervenzellen

Lübecker Uniklinik für Kinder- und Jugendmedizin erhält Förderung über 150 000 Euro

Wenn Kinder oder Jugendliche an Epilepsie erkranken, erfahren sie oft nicht sehr viel über ihr Leiden. Medikamente helfen zwar den meisten, Häufigkeit und Intensität der Anfälle zu reduzieren. Doch Tabletten sind nicht alles - vor allem, wenn die Kinder gar nicht wissen, warum sie welche nehmen sollen. Erstmals im deutschsprachigen Raum hat jetzt die Klinik für Kinder- und Jugendmedizin der Universität Lübeck ein standardisiertes Schulungsprogramm für Mädchen und Jungen zwischen sieben und 15 Jahren entwickelt. Damit lernen sie, ihre Krankheit zu verstehen und selbständig und selbstbewusst mit ihr zu leben. "Das Programm wurde in den vergangenen drei Jahren intensiv getestet und ständig verbessert", erläutert die kommissarische Klinikleiterin Priv.-Doz. Dr. Ute Thyen, "nun soll es sich in einer von uns initiierten Multicenterstudie bewähren und anschließend allen Einrichtungen, in denen junge Epilepsiepatienten behandelt werden, zugänglich gemacht werden."

Das Engagement der Lübecker Wissenschaftler wird in Kürze belohnt: Aus einem Sponsoring-Programm des amerikanischen Chemiekonzerns Johnson & Johnson (deutsches Tochterunternehmen: Janssen-Cilag GmbH), mit dem Gesundheitsangebote für Kinder und Jugendliche gefördert werden, erhält die Klinik 150 000 Euro für die Verwirklichung des außergewöhnlichen Projekts. Die Scheckübergabe findet am 8. März während eines neuropädiatrischen Kolloquiums in der Kinderklinik Datteln der Universität Witten/Herdecke statt.

Flip und Flap, zwei quietschfidele Nervenzellen mit Gesicht, Armen und Beinen, sind die Helden eines bunt illustrierten Comics, mit dessen Hilfe Kinderkrankenschwestern, Ärzte und Psychologen den jungen Patienten und ihren Eltern das Krankheitsbild Epilepsie nahe bringen wollen. "Die Kinder lieben diese Figuren", weiß Dipl.-Psychologin Esther Müller-Godeffroy. Die spielerisch-informative Herangehensweise an das Mysterium Gehirn, das im Comic als Kommandozentrale dargestellt wird, erscheint sehr sinnvoll: Denn den jungen Patienten ist es bis dahin meist ein Rätsel, was es mit ihrer merkwürdigen Krankheit auf sich hat.

Wie es zu einem Anfall kommt und was während dessen im Hirn passiert, wissen auch die Neuro-Forscher bis heute nicht genau. Bekannt ist inzwischen, dass es in der Kommunikation der Nervenzellen Störungen gibt, die unterschiedliche Gründe haben können: Angeborene Fehlbildungen des Gehirns, Verletzungen, Entzündungen (Meningitis), Alkohol- oder Drogenmissbrauch. Dr. Thyen: "Epilepsie ist eine chronische Krankheit, die zu jedem Zeitpunkt von der Geburt bis ins hohe Alter erstmalig auftreten kann. Im Kindes- und Jugendalter gilt sie als häufigste Hirnerkrankung: Etwa 60 von 100 000 Kindern bis 15 Jahre sind betroffen."

In der Öffentlichkeit besonders geläufig ist der generalisierte Krampfanfall. Hauptkennzeichen dieser Epilepsieform, unter der vor allem Erwachsene leiden, sind die wilden Zuckungen von Armen und Beinen, die mitunter zu schweren Verletzungen führen können. Der Epileptiker befindet sich während des nur wenige Minuten dauernden Anfalls in tiefer Bewusstlosigkeit; hinterher schläft er meist lange und kann sich anschließend an nichts erinnern. "Diese Art der Erkrankung hat zur Stigmatisierung aller Epileptiker beigetragen. Bei Patienten mit generalisierten Krampfanfällen ist die kognitive Leistungsfähigkeit aufgrund einer Hirnerkrankung oder als Folge wiederkehrender Anfälle häufig eingeschränkt. Dies führt in der Öffentlichkeit dann vielfach zu der falschen Gleichsetzung von Epilepsie und geistiger Behinderung", erklärt die Kinderärztin.

Bei Kindern und Jugendlichen tritt besonders häufig eine deutlich mildere, dennoch ebenfalls stark beeinträchtigende Anfallsform auf. Die so genannten Abscencen sind gekennzeichnet von sekundenlangen Bewusstseinsstörungen; die Kinder haben einen starren, leeren Blick und sind abwesend. Zehn bis 20 solcher kleinen Anfälle, in denen die Hirnfunktionen vollständig ausgeschaltet sind, können pro Stunde auftreten. Unbehandelt kann dies auf Dauer zu einer Hirnschädigung führen. Kurzfristig erhöht sich die Unfallgefahr drastisch: "In solchen Momenten ist keine kontrollierte Steuerung möglich. Das kann z.B. beim Fahrrad fahren oder im Schwimmbad sehr gefährlich werden", sagt Dr. Thyen. In der Schule haben Kinder mit Abscencen oft große Probleme, weil sie während der sich wiederholenden Attacken nichts vom Unterrichtsstoff aufnehmen.

Mit medikamentöser Unterstützung - nur in den seltensten Fällen sind bei schwierigen Epilepsien operative Eingriffe oder elektrische Nervstimulationen erforderlich - gelingt es heute in den meisten Fällen, das Anfallsleiden zu mildern oder sogar ganz zu beseitigen. "Gerade bei den Abscencen ist die Prognose sehr günstig. In mehr als 90 Prozent der Fälle können wir eine völlige Anfallsfreiheit erreichen", erläutert die Klinikleiterin.

Die medizinische Therapie ist jedoch nur dann erfolgreich, wenn die Patienten in der Lage sind, sich mit ihrer Krankheit auseinander zu setzen, sie ins tägliche Leben und die künftige Lebensplanung zu integrieren. Psychologin Müller-Godeffroy: "Früher wurde mit den Kindern nicht über die Erkrankung gesprochen, sie hatten einfach ihre Tabletten zu nehmen. Heute wissen wir: Je umfassender die Kinder informiert sind, desto besser können sie sich auf ihre Krankheit einstellen und desto geringer sind die Einschränkungen in ihrem sozialen Leben - im Elternhaus, in der Schule und in der Freizeit."

Das Problem bei jungen Epileptikern: Sie wissen oft gar nicht, unter welcher Erkrankung sie eigentlich leiden, weil sie ihre Anfälle nicht bewusst miterleben. Anschließend merken sie nur an den fragenden Blicken ihrer Mitschüler oder dem ängstlichen Verhalten der Eltern, dass wieder etwas mit ihnen passiert ist. In der ärztlichen Praxis ist es meist nicht üblich, die Kinder mit in die Aufklärung einzubeziehen; Gespräche finden hier vor allem zwischen Eltern und Ärzten statt.

Diese Unwissenheit hinterlässt Spuren: Epilepsiekranke Kinder leiden überdurchschnittlich häufig unter psychosozialen Begleitsymptomen wie mangelndem Selbstbewusstsein, depressiven Verstimmungen und einem negativen Selbstbild. Weit verbreitet sind Angst, Schuld- und Schamgefühle. Unbewusst verstärken die in Sorge lebenden Eltern diese Tendenzen, in dem sie ihre Kinder überbehüten und ihnen mit Blick auf einen möglichen Anfall alltägliche Dinge (allein in die Stadt gehen, bei Freunden übernachten etc.) verbieten.

An all diesen Punkten setzt die neue Schulung an. Sie soll - altersangemessen und bedarfsorientiert - Wissen über die medizinischen Sachverhalte, Verständnis für die Erkrankung sowie Bewältigungsstrategien für den Alltag vermitteln. Der praxisnahe Unterricht, zu dem u.a. Rollenspiele ("Wie erkläre ich einem Freund meine Krankheit?") und Übungen zur Problemlösung gehören, findet in intensiven Blockseminaren an Wochenenden statt; Eltern und Kinder werden getrennt geschult, die Kinder außerdem in zwei Altersgruppen eingeteilt. Zentrales Anliegen der Schulung ist die Anleitung der Kinder und Jugendlichen zu einem selbstverantwortlichen Krankheitsmanagement insbesondere in Bezug auf die Medikamenteneinnahme und die krankheitsangemessene Alltagsgestaltung.

Die ersten Ergebnisse sind viel versprechend: "Die Kinder nahmen die Comicgeschichten aus dem Kurs oft mit in ihre Schule und erzählten dort erstmals von ihrer Erkrankung", erklärt Esther Müller-Godeffroy. Auch setzen Kinder und Jugendliche die erhaltene Anleitung zur selbständigen Tabletteneinnahme mit hoher Motivation um. Eltern und Kinder beschrieben den oft erstmaligen Erfahrungsaustausch mit anderen Betroffenen als wohltuend und in vielerlei Hinsicht entlastend.

Erprobt wurde die von der Lübecker Psychologin Sabine Jantzen entwickelte Methode in den Epilepsieambulanzen von Kinderkliniken in Lübeck, Hamburg, Hannover und Datteln. Im August 2003 beginnt eine Multicenterstudie mit acht bis zehn Kinderkliniken, in der der Erfolg des neuen Programms wissenschaftlich exakt untersucht wird. Etwa 150 Kinder und ihre Eltern unterziehen sich einmal vor sowie vier Wochen und sechs Monate nach der Schulung verschiedenen Tests, Fragebögen und Interviews. Anschließend kann das standardisierte Programm, das im Modulsystem aufgebaut ist und demzufolge auch auf mehrere Unterrichtseinheiten verteilt werden kann, an allen Epilepsieambulanzen im deutschsprachigen Raum eingeführt werden.

Das umfangreiche Schulungsmaterial, zu dem auch der Comic gehört, wird jetzt vom Lübecker Verlag Schmidt-Römhild als Schulungsmanual ("Flip&Flap-Schulungsprogramm für Kinder und Jugendliche mit Epilepsie und ihre Eltern") herausgegeben. In der Erprobungsphase steht es zunächst den Zentren zur Verfügung, die an der Multicenterstudie beteiligt sind; nach der Evaluation wird es der Öffentlichkeit zugänglich gemacht.

Uwe Groenewold / Pressedienst Universität zu Lübeck

Die Fotos sind zur Veröffentlichung freigegeben. Um ein Belegexemplar wird freundlichst gebeten.

 

Priv.-Doz. Dr. Jürgen Sperner, Dipl.-Psych. Esther Müller-Godeffroy, Priv.-Doz. Dr. Ute Thyen und Dipl.-Päd.Stefan Häger (v.l.n.r)

Priv.-Doz. Dr. Jürgen Sperner, Dipl.-Psych. Esther Müller-Godeffroy, Priv.-Doz. Dr. Ute Thyen und Dipl.-Päd.Stefan Häger (v.l.n.r)

Dipl.-Psych. Sabine Jantzen hat das Lübecker Schulungsprogramm zur Epilepsie maßgeblich entwickelt

Dipl.-Psych. Sabine Jantzen hat das Lübecker Schulungsprogramm zur Epilepsie maßgeblich entwickelt