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Dienstag, 11.03.2003

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Deutschlandweit erstes interdisziplinäres Allergiezentrum entsteht in Lübeck und Borstel

Die "Allergiesaison" beginnt: Überschießende Reaktionen auf Erdnüsse können tödlich verlaufen - Neuer Forschungsschwerpunkt im Norden

Die Zahl der Allergiker steigt beständig, in Deutschland leidet schon jeder sechste unter Heuschnupfen. Hinzu kommen Millionen Menschen, die auf unterschiedlichste Substanzen aus Natur oder Industrie u.a. mit Ausschlag, Atemnot, Schwindel, Übelkeit oder Juckreiz reagieren. Die medizinische Versorgung der Betroffenen ist noch nicht optimal. Das soll sich - zumindest im norddeutschen Raum - künftig ändern: Zusammen mit der im September 2002 neu gegründeten Medizinischen Klinik III der Universität Lübeck befindet sich das bundesweit erste interdisziplinäre Allergie-Zentrum im Aufbau. "Spezialisten aus der Grundlagenforschung arbeiten hier eng mit klinisch tätigen Ärzten zusammen. Ziel muss es sein, neu gewonnenes Wissen aus dem Labor schnellst möglich zum Wohle des Patienten in die Praxis zu transportieren", erklärte der Ärztliche Direktor der neuen Klinik, Prof. Dr. Peter Zabel.

Bereits heute, so Zabel, bestehe auf dem Gebiet der Allergieforschung und -therapie eine enge Kooperation u.a. mit Wissenschaftlern des Forschungszentrums Borstel, mit Molekularbiologen, Kinderärzten, HNO- und Hautspezialisten, Arbeits- und Sozialmedizinern der Universität Lübeck. Patienten werden fachübergreifend untersucht und behandelt, Ärzte rotieren zwischen einzelnen Kliniken, Studenten werden interdisziplinär mit dem Thema Allergie vertraut gemacht. Diese intensive Zusammenarbeit solle "möglichst bald" mit der Gründung eines Allergiezentrums auch formal dokumentiert werden.

Als Allergie bezeichnet man so genannte überschießende Reaktionen des Immunsystems auf körperfremde Substanzen. Überschießend deshalb, weil das Abwehrsystem auf Fremdstoffe anspricht, die - anders als etwa Krankheitskeime ­- eigentlich ungefährlich sind für die Gesundheit. Experten schätzen, dass es etwa 20 000 Substanzen gibt, für die eine allergieauslösende Wirkung bekannt ist. Von der Ananas bis zur Zitrone, vom Angorafell bis zur Zahnpasta - prinzipiell kann jeder Stoff zum Allergen werden. Bei den meisten Allergenen handelt es sich um Eiweißsubstanzen (Proteine) pflanzlicher oder tierischer Herkunft wie etwa Blütenpollen, Hausstaubmilben oder Schimmelpilzen. Besonders die Pollen verursachen teils erhebliche Probleme mit den Atemwegen - die gerade erwachende Natur löst bei Millionen Menschen Heuschnupfen aus.
 
Zu den Forschungs- und Behandlungsschwerpunkten in Lübeck und Borstel gehören die Nussallergien. "Diese sind relativ selten und werden von Ärzten und Patienten zunächst häufig unterschätzt", erläutert Allergologin Dr. Ute Lepp, "doch Nussallergien können zu sehr heftigen körperlichen Reaktionen bis zum so genannten anaphylaktischen Schock führen, der unter Umständen tödlich verläuft."

Bei der Nussallergie wird unterschieden zwischen körperlichen Reaktionen, die ursächlich auf den Pollenflug zurück zu führen sind ("pollenassoziierte" Allergie oder allergische Kreuzreaktion) und solchen, die unmittelbar mit Verzehr oder Kontakt eines nusshaltigen Nahrungsmittels zusammen hängen. Kreuzreaktionen treten häufig bei Birkenpollenallergikern auf. "In den Birkenpollen sind Proteine enthalten, die in gleicher Weise auch in der Haselnuss, in Apfel, Birne oder Kirsche vorkommen. Diese Eiweiße, zu denen u.a. das Profilin gehört, sind für die Pflanzen von großer Bedeutung - sie schützen sie vor Krankheiten. Beim Menschen verursachen sie jedoch allergische Reaktionen." Von Fall zu Fall verschieden, müssen Birkenpollenallergiker in der Pollensaison oder sogar ganzjährig auf haselnusshaltige Nahrungsmittel verzichten.

Noch bedrohlicher sind allergische Reaktionen nach dem Verzehr von erdnusshaltigen Speisen. Hier reichen bereits kleinste Mengen im Mikrogrammbereich aus, um beim Betroffenen Luftnot, Schleimhautschwellungen oder Kreislaufstörungen hervorzurufen - die Hülsenfrucht hat ein extrem hohes allergisches Potential. Dr. Lepp berichtete von zwei Patienten, die nach dem Verzehr von Körnerbrötchen, denen Erdnuss beigemischt war, entsprechend reagierten: "Einer Patientin schwoll innerhalb weniger Minuten der Rachen zu, sie wurde ohnmächtig. Erst der herbei geeilte Notarzt bewahrte sie mit entsprechenden Medikamenten vor Schlimmerem." In solchen Fällen, so Lepp, spielen die Ärzte schon mal Detektiv. "Wir haben Kontakt mit der Großbäckerei aufgenommen. Tatsächlich setzen sie fünf ihrer Produkte Erdnuss zu. Da das Unternehmen für alle Teigarten jedoch nur eine Rührmaschine benutzt, sind auch vermeintlich erdnussfreie Backwaren für Allergiker gefährlich. Folglich kommt diese Bäckerei für unsere Patienten nicht mehr in Frage."

Wie weit verbreitet Erdnussallergien sind, ist derzeit nicht bekannt. Aus den USA, wo bereits Kleinstkinder täglich Erdnussbutter essen, weiß man, dass etwa sechs Prozent der Bevölkerung IgE-Antikörper im Blut gegen Erdnüsse entwickelt haben. Jährlich vermuten Experten mindestens 100 Todesfälle: Die Betroffenen erleiden nach dem Verzehr von Erdnüssen eine Schockreaktion mit vollständigem Kreislaufversagen und sterben ohne ärztliche Hilfe innerhalb kurzer Zeit. Aus Deutschland gibt es keine vergleichbaren Daten, doch geht Dr. Lepp von steigenden Patientenzahlen aus: "Dies liegt wahrscheinlich an der größeren Verbreitung der Erdnuss in der Lebensmittelindustrie. Vor allem in Süßwaren, etwa in verschiedenen Schokoladeprodukten, Müsliriegeln oder Karamellbonbons, sind inzwischen Erdnüsse enthalten."

Um den Betroffenen künftig besser helfen zu können, konzentrieren sich die Forschungen in Lübeck und Borstel auf verschiedene Fragen:

  • Wie kommt es eigentlich zu einer Allergie? Allergien entstehen nicht "über Nacht", es gibt Sensibilisierungsphasen, in denen sie sich ausbilden. Oft spielen gleichzeitig ablaufende Infektionen eine große Rolle. Der Zusammenhang zwischen Allergie und Infektion wird von den Wissenschaftlern intensiv unter die Lupe genommen. Erforscht wird vor allem die Bedeutung bestimmter Bakterien (Chlamydia pneumonaie) für Entstehung und Unterhaltung von allergischem Asthma.

  • Welchen Stellenwert hat das neue Erdnuss-Allergen Ara h 6, das die Forscher in Borstel entdeckt haben. Ersten Untersuchungen zufolge ist das Protein sehr widerstandsfähig: Es ist hitzestabil - übersteht somit auch höhere Temperaturen bei der industriellen Fertigung oder beim Kochen - und widersetzt sich beim Verdauungsprozess den aggressiven Magensäften. In weiteren Studien muss die Bedeutung des Allergens für den Patienten geklärt werden.

  • Wo liegt der individuelle Schwellenwert, bei dem eine allergische Reaktion ausgelöst wird? Wenige Mikrogramm von Erdnussproteinen reichen aus, um heftigste Reaktionen zu erzeugen (Zum Vergleich: Haselnüsse, Milch oder Eier bereiten Allergikern erst im Grammbereich Probleme). Um herauszufinden, warum dies so ist, wird die Beziehung zwischen der chemischen Struktur des Allergens und seiner verheerenden Wirkung auf den Organismus genauer untersucht. Außerdem arbeiten die Wissenschaftler an der Entwicklung gentechnisch hergestellter (rekombinanter) Allergene, um Betroffene zu hyposensibilisieren. Ein solches "Unempfindlichmachen" ist bei Pollenallergikern seit mehreren Jahren mit gutem Erfolg möglich; für Nahrungsmittelallergien gibt es bisher keine entsprechenden Therapieoptionen.

  • Warum reagieren Erdnussallergiker so unterschiedlich? Einige sind nur sensibilisiert, d.h. in ihrem Blut finden sich entsprechende IgE-Antikörper und sie können trotzdem folgenlos Nüsse essen. Bei anderen wiederum sind keine Antikörper nachweisbar; diese sprechen jedoch heftigst auf Erdnüsse an. Auch lässt sich niemals eine Reaktion vorhersagen: Wer beim ersten Nusskontakt beinahe gestorben ist, kann auf den zweiten nur mit leichten Schnupfen reagieren. Auch der umgekehrte Fall ist möglich.

  • Wann beginnt die Sensibilisierung? Besonders Säuglinge und Kleinkinder sind gefährdet, eine Erdnussallergie zu entwickeln. Kontrovers diskutiert wird, ob stillende Mütter deshalb auf Erdnussprodukte verzichten sollen oder ob etwa erdnusshaltige Bäder für kleine Neurodermitispatienten allergieauslösend sein können. Eindeutige Empfehlungen gibt es noch nicht, doch rät Dr. Lepp zum Verzicht von Erdnussprodukten in den ersten drei Lebensjahren, wenn die Eltern allergiebelastet sind.

Besonders gefährdet sind Allergiker beim Restaurantbesuch, wenn Ihnen die Zutaten nicht bekannt sind. Auch im Supermarkt sind längst nicht alle Inhaltsstoffe auf der Verpackung ausgezeichnet. "Versteckte Allergene sind ein erhebliches Gesundheitsrisiko für gefährdete Nahrungsmittelallergiker", warnt Dr. Lepp. Umfassenden Schutz gibt es nicht, deshalb werden in Lübeck und Borstel alle Patienten mit einem Notfallset ausgestattet, so dass sie sich im Extremfall die lebensrettende Medikamentenkombination aus Cortison, Antihistaminika und Adrenalin selbst spritzen können.

Doch Erdnussallergiker müssen gar nicht erst zu Messer und Gabel greifen: Etwa fünf Prozent von ihnen, so eine amerikanische Untersuchung, reagieren mit Atemnot und ähnlichen Symptomen auf einen Kuss auf Wange oder Mund - selbst wenn sich der Partner zuvor die Zähne geputzt hat. Und bei Prof. Zabel ist bereits ein Skatspieler vorstellig geworden, der über heftige allergische Reaktionen klagte, weil seine Spielpartner vorab Erdnüsse gegessen hatten und er über die Karten Kontakt mit dem Allergen bekam. Prof. Zabel: "Deshalb sollten Nussallergiker künftig aber nicht aufs Küssen oder Karten spielen verzichten. Wir müssen das Problem anders lösen: Es gilt, mehr über die Krankheit zu erfahren und den Patienten besser zu analysieren, so dass wir künftig jedem Einzelnen eine optimale Therapie anbieten können."

Die Medizinische Klinik III
entstand auf Initiative des Wissenschaftsrates, der Ende der 90er Jahre sowohl die Universität Lübeck als auch das Forschungszentrum Borstel begutachtete. Die Pneumologie - deutschlandweit nur stiefmütterlich in der Medizin vertreten, obwohl zehn Prozent aller Todesfälle auf Atemwegserkrankungen zurück zu führen sind - sollte zum Schwerpunkt gemacht werden. Das vorhandene know how und die gewachsene Infrastruktur böten hierfür optimale Voraussetzungen, so der Wissenschaftsrat.

Am 5. September 2002 nahm die Medizinische Klinik III mit den Schwerpunktdisziplinen Pneumologie, Allergologie und Infektiologie ihren Betrieb auf. Sie steht unter Leitung von Prof. Peter Zabel, der in Personalunion Ärztlicher Direktor der Medizinischen Klinik im Forschungszentrum Borstel ist. Die neue Klinik verfügt über 18 Betten, ein Schlaflabor, eine Poliklinik mit angeschlossener HIV-Ambulanz sowie eine technisch hochwertig ausgestattete Funktions- und Endoskopieeinheit, in der alle interventionellen bronchoskopischen Möglichkeiten bestehen.

Die enge Verzahnung zwischen Kliniken und Forschungseinrichtungen in Lübeck und Borstel wird nach Überzeug von Prof. Zabel zu einer deutlichen Verbesserung der Patientenversorgung führen und der pneumologischen Forschung weitere Impulse geben. "Die Gründung der Medizinischen Klinik III bedeutet für die Region einen Quantensprung für klinische Versorgung, Forschung und Lehre auf den Gebieten Pneumologie, Allergologie und Infektiologie."

Uwe Groenewold / Wissenschafts-Dienst Uni Lübeck

Die Fotos sind zur Veröffentlichung freigegeben. Um ein Belegexemplar wird freundlichst gebeten.

Dr. med. Ute Lepp, Abteilung Klinische Medizin am Forschungszentrum Borstel

Dr. med. Ute Lepp, Abteilung Klinische Medizin am Forschungszentrum Borstel

Ein Allergietest mit Nahrungsmitteln, wie er in Lübeck und Borstel durchgeführt wird

Ein Allergietest mit Nahrungsmitteln, wie er in Lübeck und Borstel durchgeführt wird

Prof. Dr. med. Peter Zabel, Direktor der Medizinischen Klinik III und Direktor am Forschungszentrum Borstel

Prof. Dr. med. Peter Zabel, Direktor der Medizinischen Klinik III und Direktor am Forschungszentrum Borstel