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Donnerstag, 13.09.2001

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ADHS: Kleine Patienten profitieren von kombinierter Therapie

In jeder Klasse gibt es im Schnitt ein bis zwei Kinder mit einer Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung

Sie können nicht zuhören, sind zappelig, chaotisch, springen von einem Extrem ins andere, reden ununterbrochen - die Liste der Eigenschaften, die bei Kindern mit der so genannten Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) mal mehr und mal weniger stark ausgeprägt sind, ließe sich beliebig fortsetzen.

Experten der Poliklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie der Medizinischen Universität Lübeck (MUL) haben es sich zum Ziel gesetzt, vorhandene Defizite bei ihren jungen Patienten möglichst früh zu erkennen, um zeitig eine Erfolg versprechende Therapie zu beginnen.

"Wie erkenne ich Aufmerksamkeitsstörungen und Hyperaktivität im Säuglings- und Kleinkindalter?" lautet denn auch eines der zentralen Themen bei der Jahrestagung des Bundesverbandes der Ärzte für Kinder- und Jugendpsychiatrie, die vom 13. bis 15. September an der MUL stattfindet. An dem Kongress nehmen mehr als 250 Spezialisten aus ganz Deutschland teil.

"Das zu Grunde liegende Krankheitsbild ist seit etwa 150 Jahren bekannt; wir erinnern uns alle an die Geschichte vom Zappelphilipp", erläutert Prof. Ulrich Knölker, Leiter der Poliklinik an der Lübecker Uni. Vor allem durch drei Symptome wird ADHS - ältere Bezeichnungen lauten MCD (Minimale Cerebrale Dysfunktion) oder HKS (Hyperkinetisches Syndrom) - gekennzeichnet:

  1. Die Kinder sind wenig aufmerksam, leicht abzulenken und können sich schlecht konzentrieren.

  2. Sie handeln, ohne nachzudenken. Den Kindern fehlt die Impulskontrolle; sie können ihr Verhalten nicht steuern.

  3. Die meisten ADHS-Kinder sind ständig in Bewegung und extrem unruhig (hyperaktiv). Es gibt auch wenig aktive Patienten, die kaum auffallen, aber wegen der erstgenannten Symptome auch ohne Hyperaktivität behandelt werden müssen (ADS).

Prof. Knölker schätzt, dass zehn Prozent der Kinder in Deutschland mit ADHS-Symptomen auffällig und mindestens fünf Prozent aller Schulkinder therapiebedürftig sind: "In jeder Klasse gibt es im Schnitt ein bis zwei Kinder mit einer Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung." In der Lübeck Klinik werden jährlich 500 neue Patienten behandelt. Betroffen sind meist Jungen: Auf ein Mädchen mit ADHS kommen sechs bis neun erkrankte Jungen.

Charakteristisch ist, dass die Probleme bereits sehr früh einsetzen - Säuglinge schreien viel, schlafen schlecht, sind leicht reizbar; Kleinkinder können nicht richtig spielen, sich nicht in eine Kindergartengruppe integrieren - und unmittelbare Auswirkungen auf die weitere Entwicklung haben. Prof. Knölker: "Viele Kinder mit ADHS entwickeln sich nicht altersgemäß, lernen z.B. nur schlecht sprechen. Das wirkt sich ungünstig auf die Schullaufbahn und den alltäglichen Umgang mit Gleichaltrigen aus."

Die Ursachen der Erkrankung liegen größtenteils im Dunkeln; eindeutige Beweise, wie etwa in der organischen Medizin, gibt es nach Angaben von Prof. Knölker nicht. Als gesichert gilt, dass neurobiologische Abläufe im Gehirn gestört sind. Besonders das Zusammenspiel der Neurotransmitter (Botenstoffe) Dopamin, Serotonin und Noradrenalin im Hirnstoffwechsel scheint beeinträchtigt und für das Auftreten der Symptome verantwortlich zu sein. Mangelt es z.B. an Dopamin, können Aktivitäten des Nervensystems, die unsere Gefühle und unser Verhalten steuern, nur unzureichend beeinflusst werden. 

"Ganz bestimmt entsteht eine ADHS nicht durch äußere Einflüsse wie Fehlerziehung oder schulische Überforderung. Hier handelt es sich um einen noch immer weit verbreiteten Irrglauben", erklärt der Psychiater, der auch mit einem weiteren "In-Schubladen-denken" aufräumen will: Kinder mit ADHS stammen nicht automatisch aus sozial angespannten Verhältnissen (Stichwort: alleinerziehende, berufstätige und überforderte Mutter). "Wir dürfen hier Ursache und Wirkung nicht verwechseln. Das Kind ist es, was die Krankheit hat und meist rund um die Uhr Aufmerksamkeit beansprucht. So etwas stresst und nervt und ist für eine Alleinstehende ungleich schwerer zu bewältigen als für eine ´normale´ Familie, die sich aufklärt und gezielt mit der Krankheit ihres Kindes befasst."
 
Bei der Diagnose stützten sich die Experten zum einen auf Berichte aus dem Elternhaus, von Kindergärtnerinnen und Lehrern. Zum anderen wird das Kind umfassend körperlich und neurologisch untersucht und einer Reihe von Testverfahren (Konzentrationsfähigkeit, Ablenkbarkeit etc.) unterzogen. Diese finden - zur Begeisterung der Kinder - auch am Computer statt.

Die Therapie ist vielschichtig und sollte das soziale und schulische Umfeld des kleinen Patienten immer mit einbeziehen. Prof. Knölker: "Am wichtigsten ist zunächst eine umfassende Aufklärung der Familie. Wenn die Eltern verstehen, warum ihr Kind sich so verhält und auch das Kind begreift, weshalb es im Unterricht nicht still sitzen kann und mit den Hausaufgaben nicht klarkommt, ist schon viel gewonnen." In Schulungen, in denen konkrete Alltagssituationen durchgespielt werden, erfahren Eltern, warum eine "Gardinenpredigt" ihre hyperaktiven Sprösslinge wenig beeindruckt, dagegen kurze und klare Anweisungen sehr wirksam sind (Bsp.: "Geh bitte in die Küche und hol den Dosenöffner" statt "Gehst Du mal nach unten. Ich glaube, in der Küche im Schrank neben dem Herd ist ein Dosenöffner. Kannst Du mir den einmal bringen...").

Auch die Lehrer spielen eine wichtige Rolle. Statt ewig zu schimpfen ("Wenn Du nicht endlich still bist, fliegst Du raus"), kann der Pädagoge den Störenfried in der ersten Reihe platzieren und mit ihm spezielle Fingerzeige oder Schlüsselwörter verabreden. Überspannt das Kind während des Unterrichts den Bogen, hilft dann oft das vereinbarte Zeichen, um es wieder auf den Boden zu holen.

Das Kind selbst profitiert meist von einer Kombination aus Verhaltenstherapie, psychomotorischen Bewegungsübungen und einem Medikament, das in den Hirnstoffwechsel eingreift (z.B. Ritalin). Ritalin, so Prof. Knölker, ist weder ein Beruhigungs-, noch ein Aufputschmittel. Es ermöglicht den Kindern, sich besser zu konzentrieren und länger aufmerksam zu bleiben; gleichzeitig reguliert es die Impulsivität. "Bei den allermeisten Patienten erzielen wir mit Ritalin einen durchschlagenden Erfolg; sie können oft erstmals klar und strukturiert denken." Die Nebenwirkungen (z.B. Appetitminderung, Übelkeit, Kopf- und Bauchschmerzen) sind laut Knölker beherrschbar und stehen in keinem Vergleich zum Nutzen des Präparats, das in aller Regel nur von Patienten mit einer ausgeprägten ADHS eingenommen werden muss. Im übrigen rät Prof. Knölker Eltern, Fragen rund ums Ritalin mit einem fach- und sachkundigen Arzt zu besprechen.

Trotz aller Therapiefortschritte ist eine ADHS nicht heilbar. Die motorische Unruhe bessert sich im Jugendalter, doch Konzentrationsschwächen und Impulsivität nehmen bis zu 60 Prozent aller Patienten mit ins Erwachsenenalter. Welche Auswirkungen die Erkrankung auf erwachsene Männer und Frauen haben, erforschen Psychiater und Psychologen der Lübecker Universitätsklinik derzeit in mehreren übergreifenden Studien.

Die Bedeutung einer frühzeitig einsetzenden Therapie hebt auch Barbara Bargele´, Leiterin des Lübecker "Arbeitskreis Überaktives Kind" (AÜK), hervor: "Wir beobachten sehr große Erfolge, wenn schon vor Beginn der Schulzeit die soziale Kompetenz und die Psychomotorik trainiert werden. Voraussetzung dafür ist eine rechtzeitige Diagnose mit begleitender Elterninformation und -schulung."

Uwe Groenewold


Wie krass sich eine - zunächst unerkannte - ADHS im Extremfall entwickeln kann, zeigt eindrucksvoll der Bericht einer betroffenen Mutter:

"Mein Sohn kam auf die Welt und hat gebrüllt. Er war ein echtes Schreibaby, unruhig, immer in Aktion und beinahe ohne Schlafbedürfnis. Kein Vergleich zu seiner drei Jahre älteren Schwester. Seine Wildheit hat ihm ungezählte Verletzungen eingebracht: Mit seinem Bobbycar  ist er ständig Stufen heruntergefahren und dann auf die Nase gefallen. Schmerzen schien er nicht zu spüren, die Pflaster am ganzen Körper machten ihm nichts aus. Er ist in Waschmaschine und Backofen gestiegen, hat sich unter parkende Autos gelegt, hing mit dem Kopf zuerst im Klo - lauter irre Sachen. Die machen andere Kinder vielleicht auch, aber er hat sie alle an einem Tag und immer und immer wieder gemacht. Dann kletterte er auf Schränke und Treppenabsätze, schrie "Häschen hüpf" und sprang ohne Vorwarnung in die Tiefe. Im Schwimmkurs hatte er mit diesem Kommando gelernt, vom Beckenrand ins Wasser zu springen. Nur: Zu Hause landete er nicht im Wasser, sondern auf den harten Fliesen.

Ich kroch zu der Zeit praktisch "auf dem Zahnfleisch". Ich war voll berufstätig, hatte bei meiner Arbeit viel mit Kindern zu tun und bin auch sehr gut mit ihnen zurecht gekommen. Nur mein Sohn überforderte mich vollends. Ich konnte nicht mehr, war rund um die Uhr immer nur bemüht, ihn vor dem Schlimmsten zu retten. Von den Ärzten konnte ich keine Hilfe erwarten: Mit zweieinhalb waren wir das erste Mal bei einem Kinder- und Jugendpsychiater. "Das ist doch ein cleveres Kerlchen. Andere Eltern wären froh, wenn sie so ein lebendiges Kind hätten. Mit ihnen stimmt wohl etwas nicht", lautete das für mich niederschmetternde Fazit. So ging es über Jahre weiter. Ganz gleich, ob Kinderarzt, Psychiater oder Familienberatungsstelle: Bei allen hieß es "Mit dem Jungen ist alles in Ordnung. Sie sind es, die nicht richtig ticken." Das glaubte ich dann sogar selbst, fing gemeinsam mit meinem Mann eine Psychotherapie an.

Im Kindergarten hielten es Kinder und Erzieherinnen nie länger als zwei Stunden mit ihm aus. Er biss, kratzte und kniff, benutzt übelste Schimpfwörter und konnte nicht eine Minute ruhig spielen. In der Schule konnte er sich natürlich nicht ans Ruhigsitzen gewöhnen. Er kletterte auf die Tafel, steckte im Papierkorb und machte den Max. In der 3. Klasse wurde ich in die Schule zitiert: Mein Sohn sollte in eine Sonderschule, die Anmeldeformulare lagen schon auf dem Tisch. Ich habe mich mit Händen und Füßen gewehrt, weil ich wusste, dass mein Sohn keineswegs dumm war. Klassenarbeiten hat er immer gut hinbekommen, seine Schulnoten waren okay.

Er war zehn, als wir zu Prof. Knölker in die MUL kamen. Endlich hörte mir jemand zu und nahm mich ernst. Der Professor wusste sofort, was los war - und die späteren Untersuchungen und Tests bestätigten seine Vermutungen: Mein Sohn litt seit seiner Geburt unter einer Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung. Ich hätte heulen können, als ich endlich wusste, was los war. Warum nur hat das kein Arzt oder Therapeut zuvor herausgefunden?  

Endlich wurde es besser, unser ganzes Leben veränderte sich: Mein Sohn begann eine Verhaltenstherapie, bekam psychomotorisches Training und wurde auf das Medikament Ritalin eingestellt. Mit der Pubertät nahmen dann die verletzungsintensiven motorischen Störungen ab. Wir Eltern informierten uns, ließen uns schulen und sprachen mit seinen Lehrern. Er ging inzwischen aufs Gymnasium, schlängelte sich mit therapeutischer Hilfe von Klasse zu Klasse. 

Die Probleme waren trotz der verbesserten Situation nicht aus der Welt. Seine Psyche hatte erheblichen Schaden genommen, weil er über viele Jahre immer von allen Seiten "was auf den Deckel" bekam. Selbst bei uns zu Hause ist es heute oft noch so: Wenn irgendwo etwas scheppert oder umfällt, rufen alle im Chor: "Was machst Du jetzt schon wieder?" Das hinterlässt natürlich Spuren. Weil er so vorlaut war, haben wir gedacht, dass er sehr robust ist. Seine Seele haben wir zu selten berücksichtigt.

Es war aber auch immer Aktion im Haus; nachts war meist die ganze Familie wach, weil er alle auf Trab hielt. Oft haben wir uns wie auf einem Bahnhof gefühlt. Am meisten in Beschlag genommen hat er natürlich mich, seine Mutter. Wenn er etwas auf dem Herzen hatte, ist er im Abstand von zehn Zentimetern hinter mir her gegangen und hat mir pausenlos ins Ohr gebrabbelt. Alle Versuche, ihn zu unterbrechen, schlugen fehl. Ich hatte nur zwei Möglichkeiten: Entweder mich hinsetzen und mir stundenlange Monologe anhören oder kurz entschlossen mit dem Auto wegfahren. Wenn ich dann später zurück kam, hatte er sich meist einigermaßen beruhigt.

Ohne Humor hätte ich die Jahre nicht durchgestanden. Die ganze Familie hat immer auch die komischen Seiten unserer Situation gesehen und herzhaft gelacht. Ich glaube, wenn man alles analysiert und hinterfragt, wird man eines Tages verrückt.

Heute ist mein Sohn erwachsen. Probleme gibt"s immer noch, doch er bekommt sie besser in den Griff: Ohne eine Klasse zu wiederholen, hat er sein Abitur bestanden. Inzwischen studiert er Betriebswirtschaft, hat sein Vordiplom mit 2 abgeschlossen. Er lebt in einer eigenen Wohnung und kommt mit dem Chaos, das dort herrscht, gut zurecht.

Alle reden immer nur von den Defiziten. Doch er hat, wie die meisten ADHS-Betroffenen auch, viele Stärken: Er kann sehr gut und überzeugend reden, ist offen und kontaktfreudig, hat eine tolle Ausstrahlung mit ganz viel Charme und kann andere Menschen für sich gewinnen."

Prof. Dr. med. Ulrich Knölker, Direktor der Poliklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie

Prof. Dr. med. Ulrich Knölker, Direktor der Poliklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie