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WS 2009/10

Rausch und Rauschen

"Rausch und Rauschen" lautet das Thema des Lübecker Studium Generale im Wintersemester 2009/10. Hier genauere Angaben zum Inhalt der einzelnen Vorträge und zur Person der Referenten und Referentinnen.

Grenzenlos - Tage im November (Dr. Karen Meyer-Rebentisch, 12.11.2009)

"Wahnsinn" ist der Ruf der Stunde. Er vereint die Menschen aus dem Osten, die in Autos aus Pappe und gehüllt in stone-washed Jeans gen Westen streben, mit den Bundesbürgern, welche Obst und Kaffee reichen, ihre lange kultivierte Reserviertheit vergessen und das Wagnis eingehen, wildfremde Familien in ihren Häusern zu beherbergen. Sie alle berauschen sich an einem ganz einzigartigen Ereignis, an den unglaublichen Folgen einer friedlichen Revolution, die einer Lawine gleich immer mehr mit sich reißt, bis ein ganzer Staat aus seinen Grundfesten gehoben wird und mit ihm ein jahrzehntelang gepflegter Systemantagonismus. Dass auf einen solchen Rausch ein Kater folgt, weiß die Alltagserfahrung. Der Vortrag befasst sich mit dem Geschehen aus der Perspektive der beteiligten und betroffenen Menschen in der Region Lübeck.

Karen Meyer-Rebentisch

Dr. Karen Meyer-Rebentisch wurde 1963 in Neuss am Rhein geboren und verbrachte dort ihre Schulzeit. Zum Studium der Empirischen Kulturwissenschaft und Allgemeinen Rhetorik ging sie nach Tübingen. Bereits dort sammelte sie beim Südwestfunk erste journalistische Erfahrungen. Auf die Zeit in Schwaben folgten ein paar Jahre als Ausstellungsmacherin in Berlin. Der Moment war gut gewählt, denn den Fall der Mauer und die aufregende Zeit danach erlebte sie so hautnah mit. 1993 zog sie nach Lübeck, arbeitete einige Zeit im hiesigen Institut für Sozialmedizin und gründete eine Familie. In den folgenden Jahren war sie vor allem als Sachbuchautorin im Bereich Kinder/Gesundheit aktiv. Mit einer Ausstellung über Kindheit im Nationalsozialismus (2001) kehrte sie in die Welt der Museen zurück. Für das Kulturforum Burgkloster erarbeitete sie die Ausstellung "Angekommen" über Flüchtlinge und Heimatvertriebene in Lübeck (2005). Promotion über dasselbe Thema (2008). Für den Oktober 2009 bereitet sie derzeit die Ausstellung "Grenzerfahrungen" über das Leben an der innerdeutschen Grenze bei Lübeck vor. - Veröffentlichungen (Auswahl): "Grenzerfahrungen - vom Leben mit der innerdeutschen Grenze" (2009), "In Lübeck angekommen - Erfahrungen von Flüchtlingen und Heimatvertriebenen" (2008), "Angekommen - 60 Jahre Flüchtlinge und Vertriebene in Lübeck" (2005), "Unfallopfer. Der zweite Weg ins Leben." (1996), Hg.: "Deutschland einig Mörderland." (Kurzkrimi-Anthologie aus Ost und West, 1995), "Die Flutung des Berliner S-Bahn-Tunnels in den letzten Kriegstagen. Rekonstruktion und Legenden." (1992).

Das Dionysische - Die dunkle Seite der Antike (Prof. Dr. Renate Schlesier, 17.12.2009)

Dionysos war einer der beliebtesten und rätselhaftesten Götter der Griechen, und auch die Moderne hat er mehr fasziniert als jeder andere antike Gott. Zu seinen zentralen Wirkungsbereichen gehörten Wein und Ekstase, oft verbunden mit Musik, Tanz und ausgelassener Sexualität, aber auch die Maske und das Theater. Als Mysteriengott versprach er zudem Seligkeit im Jenseits. Der antike Dionysos kann jedoch nicht auf die Heiterkeit von ‘Wein, Weib und Gesang" reduziert werden, wie man lange angenommen hat. Er ist als ein Gott der Vieldeutigkeiten anzusehen und der (auch gefährlichen) Vermischung von Göttlichem und Menschlichem, Frau und Mann, Tier und Mensch, Leiden und Lust, Opferobjekt und -subjekt. Dies mag seine erstaunliche Konjunktur in der Moderne erklären.

Renate Schlesier

Prof. Dr. Renate Schlesier wurde in Berlin geboren, wo sie auch ihre Kindheit und Jugend bis zum Abitur am Französischen Gymnasium verbrachte. Ihr Studium absolvierte sie zunächst in Tübingen und Paris, dann bis zur Promotion 1980 in Berlin. Zu ihren Studienfächern gehörten Philosophie, Allgemeine Rhetorik, Gräzistik, Romanistik, Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft sowie Religionswissenschaft. In letzteren Fach habilitierte sie sich 1988 an der Freien Universität Berlin. Nach Lehrerfahrungen in Berlin (auch an der Hochschule der Künste) übernahm sie 1993 den - in Deutschland einzigartigen - Lehrstuhl für Kulturwissenschaftliche Anthropologie an der Universität Paderborn. Dort leitete sie u.a. das DFG-Graduiertenkolleg ‘Reiseliteratur und Kulturanthropologie". Seit 2002 ist sie Inhaberin des Lehrstuhls für Religionswissenschaft an der Freien Universität Berlin. Hier leitet sie eine Reihe von Forschungsprojekten, u.a. in den DFG-Sonderforschungsbereichen ‘Kulturen des Performativen", ‘Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste" sowie ‘Transformationen der Antike" (zum Thema ‘Der differente Gott. Konstruktionen des Dionysos in der Moderne"). Zahlreiche Gasteinladungen führten sie nach Frankreich, England, Israel, Japan und ltalien sowie in die Schweiz und die USA (u.a. 2007 und 2009 Forschungsaufenthalte in Princeton am Institute for Advanced Study). Gemeinsam mit dem Berliner Antikenmuseum konzipierte sie eine Dionysos-Ausstellung im Pergamonmuseum (Laufzeit: November 2008 bis Januar 2010; Katalog mit Essays: Dionysos - Verwandlung und Ekstase, 2008). Zu ihren weiteren Buchpublikationen gehören: Kulte, Mythen und Gelehrte. Anthropologie der Antike seit 1800 (1994) sowie zahlreiche Sammelbände, darunter: Mobility and Travel in the Mediterranean from Antiquity to the Middle Ages (2004); Neuhumanismus und Anthropologie des griechischen Mythos. Karl Kerényi im europäischen Kontext des 20. Jahrhundert (2006); Ritual als provoziertes Risiko (2009).

Trancemedien und Medientrancen (Dr. Wolfgang Hagen, 21.1.2010)

Dr. Wolfgang Hagen von Deutschlandradio Kultur (Berlin) spricht über das "Para-Soziale" und zeigt, wie eng moderne Medienforschung und mediumistische Trancen miteinander verbunden sind.

Wolfgang Hagen

Wolfgang Hagen, Jahrgang 1950, stammt aus Kleve am Niederrhein. Nach dem Abitur studierte er Germanistik und Philosophie in Wien und Berlin. Promotion 1977. Von 1970 bis 1972 arbeitete er im Merve-Verlag Berlin und danach bis 1975 als Geschäftsführer einer Buchhandlung in Berlin. 1978 war er Kulturredakteur bei Radio Bremen, ab 1979 bis 1984 Redakteur und Moderator der Sendung "SFBeat" des Senders Freies Berlin. Von 1985 bis 2002 arbeitete er zunächst als Abteilungsleiter "Kultur Aktuell", als Moderator von "Drei nach Neun", dann als Gründungs- und Programmchef von "Radio Bremen Vier", dem ersten Jugendprogramm der ARD. Seit 2002 ist er Leiter der Abteilungen Kultur und Musik im Deutschlandradio Kultur sowie Leiter der Medienforschung. 2001 Habilitation an der Universität Basel, seit 2003 Privatdozent für Medienwissenschaft an der Humboldt-Universität Berlin. - Zahlreiche Veröffentlichungen zur Geschichte und Theorie des Computers, des Radios, der digitalen Bildlichkeit und der Medien: "Das Radiobuch. Zur Theorie und Geschichte des Hörfunks Deutschland/USA", Fink, München 2005; "Veronica on TV - Ikonographien im Äther: Baraduc… Beckett" in: Albert Kümmel-Schnur, Jens Schröter (Hg.), "Äther - Ein Medium der Moderne", Transscript, Bielefeld 2008.

Rausch und Ekstase in der Musik (Prof. Dr. Volker Scherliess, 11.2.2010)

Alle Musik steht im Spannungsfeld von Rationalität und Sinnlichkeit: reines Gedankenspiel auf der einen Seite, emotionaler Überschwang auf der anderen. Sowohl Pythagoras, der Begründer von Intervall- und Proportionslehre, als auch der mythische Sänger Orpheus, dessen zauberische Klänge alle Welt in Bann schlugen, wurden über Jahrhunderte als Ur-Musiker verehrt. In ihnen verkörpern sich die beiden Prinzipien, die als "Intellekt und Gefühl", "Kälte und Gluthitze" u. ä. einander gegenüberstehen. Freilich nur als theoretische Gegensätze. In der musikalischen Praxis müssen sie zusammenwirken, denn jede Musik, die eine emotionale Aussage vermitteln soll, kann dies nur durch klare Formulierungen. Im Gegensatz etwa zur Improvisation, bei der ein Spieler sich selbst und sein Publikum in Trance versetzen kann, muß in der Kunstmusik jeder Schritt bewußt und nachvollziehbar vorgenommen werden. Der Komponist schreibt sein Werk ja auf, damit es - unabhängig vom einmaligen Moment - jederzeit wiederholt werden kann. Und dabei gilt: je wilder, je entfesselter die dargestellte Emotion, um so strenger die intellektuelle Kontrolle!

Dass so ungebändigte, antikünstlerische Zustände wie Rausch und Ekstase selbst zum Thema der Kunst wurden, setzte historisch spät ein. Erst im Zusammenhang mit der Französischen Revolutions-Musik nahmen sich die Komponisten ihrer an. Über Beethoven, Berlioz und Wagner führt eine Entwicklung zur musikalischen Moderne, die gerade die Darstellung des Unerhörten, alle Fesseln Sprengenden faszinierend differenzierte. Einige solcher Beispiele sollen vorgestellt werden.

Volker Scherliess

Volker Scherliess (geb. 26. März 1945) studierte Musikwissenschaft, Kunstgeschichte und Philosophie in Hamburg. Studienjahr in Florenz. 1971 Promotion über "Musikalische Noten auf Kunstwerken der italienischen Renaissance" (Hamburg 1972). 1972-76 Mitarbeiter der Musikgeschichtlichen Abteilung des Deutschen Historischen Instituts in Rom, 1977-79 Assistent Universität Tübingen. 1979-91 Professor Staatliche Hochschule für Musik Trossingen. 1989-91 Gastdozent Universitäten Freiburg und Basel sowie Forschungsstipendium Paul Sacher Stiftung Basel. 1991-2010 Lehrstuhl für Musikwissenschaft an der Musikhochschule Lübeck. Wintersemester 2007/08: Visiting Fellow, seit 2009 Assoziiertes Mitglied der Max-Planck-Research-Group "Das wissende Bild" am Kunsthistorischen Institut in Florenz (Max-Planck-Institut). - Er schrieb Bücher - darunter "Alban Berg" (Reinbek 1975), "Gioacchino Rossini" (Reinbek 1991), "Igor Strawinsky: Le Sacre du printemps" (München 1982), "Igor Strawinsky und seine Zeit" (Laaber 1983, 2. Aufl. 2002), "Neoklassizismus: Dialog mit der Geschichte" (Kassel 1998) - sowie zahlreiche Publikationen zur neueren Musikgeschichte, insbesondere über die Beziehungen zwischen Musik und bildender Kunst sowie Musik und Literatur, darunter mehrere Aufsätze und CD-Produktionen zum Thema "Thomas Mann und die Musik".