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SS 2008

Mensch - Evolution - Genom

"Mensch - Evolution - Genom" lautet das Thema des Lübecker Studium Generale im Sommersemester 2008. Die Vorträge stehen im Rahmen der Reihe "Was ist der Mensch? Natur - Kultur". Hier genauere Angaben zum Inhalt der einzelnen Vorträge und zur Person der Referenten und Referentinnen.

Prof. Karola Stotz

Folgen wir einigen der besten Denker zur Zeit, als die moderne Synthese von Darwinismus und Genetik formuliert wurde, dann ist die wirkliche Einheit der Evolution nicht das individuelle Gen oder das integrierte Genom und nicht einmal der Oganismus, sondern das einheitliche Entwicklungssystem, welches Aspekte der Umwelt beinhaltet. Es ist dieses integrierte System von Organismus und Umwelt, welches evolviert. Diese Hypothese erhält eine neue Resonanz im Lichte eines neueren Verständnisses von der Regulierung der genetischen Expression. Ein Organismus ererbt nicht nur sein Genom, sondern eine ganze Spannbreite von Faktoren, von zellulären Strukturen und chemischen Gradienten über elterliche Fürsorge vor und nach der Geburt bis hin zu stabilen sozialen Einflüssen, die für die normale Entwicklung unverzichtbar sind. Alles Leben hängt von einer ordentlich regulierten Genomexpression ab, aber die Maschinerie, die diese Regulierung sichert, geht weit über das Genom hinaus. Diese Elemente der Umwelt sind selber Knoten im genetischen Regulationsnetzwerk, und die Natur geht sicher, dass diese 'Entwicklungsnische', wie das Genom selber, für die nachfolgende Generation verlässlich bereitgestellt wird. Fast alle Organismen opfern eine beträchtliche Anzahl an Mitteln der Strukturierung der Entwicklungsnische, die von ihren Nachfahren besetzt wird. Solch eine erweiterte Sichtweise der Vererbung, die von der 'Theorie der Entwicklungssysteme' postuliert wurde und nun von neuen Erkenntnissen der postgenomischen Forschung unterstützt wird, feilt an einigen der Hauptpfeiler der Synthetischen Theorie der Evolution. Deren Diktum, dass Evolution sich in Veränderungen der Genfrequenz allein manifestiert und dass diese die Entstehung und Diversifizierung von phänotypischen Formen hinreichend erklären, muss revidiert werden. Die Entwicklungsbiologie kann sehr wohl einen wichtigen, gar unverzichtbaren, Beitrag zu einer vollständigeren evolutionstheoretischen Synthese leisten.

Karola Stotz ist ein ARC Australian Research Fellow im Department der Philosophie der University of Sydney. Ihr derzeitiges Forschungsprojekt behandelt 'Postgenomic Perspectives of Human Nature'. Stotz veröffentlichte über wissenschaftsphilosophische Themen der Evolutions-, Entwicklungs- und molekularen Biologie, der Natur- oder-Erziehungskontroverse, der Reduktionismusdebatte und der Kognitionswissensschaften. Sie hat einen Magister Artium in Anthropologie von der Universität Mainz und einen Doktor der Philosophie von der Universität Gent. Vor ihrer jetzigen Stellung hatte sie Positionen im Cognitive Science Program an der Indiana University (2005-07), der History and Philosophy of Science Department der University of Pittsburgh (2001-04), der Unit of History and Philosophy of Science an der University of Sydney (1999-2000) und des Konrad-Lorenz Institutes der Evolutions- und Kognitionsforschung in Altenberg (1994-96). Derzeit arbeitet sie an ihrem ersten Buch (The Seamless Web of Interactive Construction: A Systems View of Development). - Einige ihrer Veröffentlichungen: Stotz, K. and C. Allen (eds, 2008) 'Reconciling Nature and Nurture in the Study of Behavior and Cognition Research'. Special issue of Philosophical Psychology, 21 (3). - Stotz, K. (ed., 2004). 'Genes, Genomes and Genetic Elements'. Special issue of History and Philosophy of the Life Sciences 26 (1). - Stotz, K (2008). 'The ingredients for a postgenomic synthesis of nature and nurture'. Philosophical Psychology 21 (2). - Stotz, K. and P. E. Griffiths (2008) 'Biohumanities: Rethinking the relationship between biosciences, philosophy and history of science, and society'. Quarterly Review of Biology 83 (1). - Stotz, K. (2006) 'Molecular epigenesis: distributed specificity as a break in the Central Dogma'. History and Philosophy of the Life Sciences 26 (4): 527-544; - Griffiths, P. E. and K. Stotz (2006). 'Genes in the Postgenomic Era'. Theoretical Medicine and Bioethics 27 (6): 499-521. - Stotz, K. (2005). 'Organismen als Entwicklungssysteme'. In: U. Krohs and G. Toepfer, eds., Philosophie der Biologie. Eine Einführung. Frankfurt/Main, Suhrkamp (swt 1745), 125-143. - Stotz, K. (2005). "Positionen der evolutionären Entwicklungsbiologie'. In: U. Krohs and G. Toepfer, eds., Philosophie der Biologie. Eine Einführung. Frankfurt/Main, Suhrkamp (swt 1745), 338-356.

Das Humangenomprojekt: Medizinische und anthropologische Implikationen

Tanz der Gene - Evolutionstheorie in der Krise (Prof. Karola Stotz, Sidney/Australien, 24. April 2008)

Prof. Dr. Karl Sperling

In der Abfolge von nur vier unterschiedlichen Bausteinen ist die genetische Information verschlüsselt, die die Grundlage der Existenz eines jeden Menschen darstellt. Insgesamt sind es sechs Milliarden Basenpaaren (Bp), die je zur Hälfte vom Vater und von der Mutter stammen. Deren genaue Abfolge wurde im Rahmen des Humangenomprojektes, des größten biologisch-medizinischen Forschungsvorhabens überhaupt, bestimmt. Die Theorie von der Kontinuität der Keimbahn besagt, dass es eine lückenlose Verbindung des menschlichen Erbgutes mit dem der ersten Lebensformen auf der Erde gibt. Die Sequenz des menschlichen Genoms hat daher zu ganz neuen Einsichten in die Stammesgeschichte geführt. Zugleich können im Rahmen der medizinischen Diagnostik eine Vielzahl von Veränderungen nachgewiesen werden, die genetisch (mit-)bedingen Krankheiten zugrunde liegen. Die exponentielle Zunahme der Kenntnisse über die genetischen Hintergründe von Krankheiten geht mit der Notwendigkeit einer angemessenen Vermittlung dieses Wissens einher. Bedenkt man zudem, dass in 5 Jahren die komplette Sequenzierung eines menschlichen Genoms nur noch etwa 1.000 €  kosten dürfte, werden die Auswirkungen jeden betreffen, jeder sollte aber auch zwischen Fakten und Fiktionen unterscheiden können.

Prof. Dr. Prof. h.c. (GNDU) Karl Sperling, Jahrgang 1941. Studium der Biologie und Chemie. Seit 1976 Direktor des Instituts für Humangenetik der Charité - Universitätsmedizin Berlin. Mitglied der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina.