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Donnerstag, 09.06.2011

Forschung

Das Buch und die Zukunft der Geisteswissenschaften

Am 9. Juni spricht Prof. Dr. Michael Hagner aus Zürich im Lübecker Studium Generale

Es ist ein in der Medien- und Technikgeschichte bekannter Gestus, dass es bei Einführung eines neuen Mediums größerer Reichweite zu Irrelevanz- oder gar Verlustängsten der Anhänger des alten Mediums kommt: die Fotografie bedroht die Malerei, der Film die Fotografie, das Fernsehen wiederum den Film und das Internet schließlich das Fernsehen. Davon ist das gedruckte Buch nicht ausgenommen. Längst vor der Erfindung von Internet, E-book und Open Access ist der Gutenberg-Galaxis das Totenglöcklein geläutet worden.

Auch wenn man sich solche Untergangsphantasien nicht zu eigen macht, kann man nicht übersehen, dass das geisteswissenschaftliche Buch unter Druck geraten ist. Ein ganzes Gefüge von Gewohnheiten und Praktiken, das im 20. Jahrhundert dominierte und mehr oder weniger stabil blieb, ist in wenigen Jahren in Bewegung gekommen. Die Frage lautet also: Welche Rolle spielt das gedruckte Buch für das Selbstverständnis und die Außenbetrachtung der Geisteswissenschaften?

Meine Überlegungen zur Situation des Buches fasse ich in drei Stichworten zusammen, nämlich erstens Kulturkritik und mediale Heilserwartung, womit gemeint ist, dass in jeder Phase von kultureller Unübersichtlichkeit und Desorientierung grundsätzliche Zweifel gesät werden, die sich entweder in einer pessimistischen Geschichtsphilosophie oder in einer medialen Heilserwartung entladen; zweitens Überforschung, womit gemeint ist, dass die Geisteswissenschaften auch unter ihrem eigenen Überfluss und Erfolg zu leiden haben; und drittens Post aus Budapest, was eine Anspielung auf die erste große Open access-Initiative vom Dezember 2001 bedeutet.

Prof. Dr. Michael Hagner, Jahrgang 1960, ist Professor für Wissenschaftsforschung an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich. Nach dem Abitur 1978 am Leibniz-Gymnasium in Dortmund studierte er zunächst Philosophie an der Ruhr-Universität Bochum und dann von 1980 bis 1986 Human-Medizin und der Philosophie an der FU Berlin. 1987 Promotion zum Dr. med.  Neben wissenschaftlichen Tätigkeiten in Berlin, London und Göttingen war er 1989 bis 1991 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Medizin- und Wissenschaftsgeschichte der damaligen Medizinischen Universität zu Lübeck.

1994 Habilitation für das Fach Geschichte der Medizin. Gastprofessuren in Salzburg, Tel Aviv, Frankfurt/Main und Köln. Seit 2003 an der ETH Zürich. 2005 Gründungsmitglied des dortigen Zentrums für Geschichte des Wissens, ab 2009 Direktor. 2011 Mitglied der Leopoldina, Nationale Akademie der Wissenschaften.

Prof. Dr. Michael Hagner