Folge 56: Zeitgeist – Ist Ideologie die neue Religion?
In einer Zeit, in der klassische Glaubenssysteme für viele an Bedeutung verlieren, erleben wir gleichzeitig eine starke Anziehungskraft weltanschaulicher Bewegungen – politisch, kulturell, sozial. Sind das neue Formen des Glaubens? Oder nur ein Missverständnis darüber, was Religion eigentlich ausmacht? Darüber sprechen wir in einer neuen Folge unserer Zeitgeist-Reihe mit drei Expert*innen der drei Lübecker Hochschulen und der Pastorin der Hochschulkirche St. Petri.
Franz Danksagmüller (Musikhochschule Lübeck), Professor für Orgel und Improvisation an der Musikhochschule Lübeck, unterscheidet zwischen Ideologie als menschengemachtem Regelwerk und Religion als einer Hilfestellung für ein erfülltes Leben. Er beobachtet eine wachsende Sehnsucht nach Sicherheit und einfachen Antworten – auch in der Kirchenmusik, die aus seiner Sicht zunehmend an Tiefe verliert. Gleichzeitig erlebt er eine neue Faszination für die Orgel, gerade bei jungen Menschen: Ihre klanglichen und technischen Möglichkeiten schlagen Brücken zwischen Tradition und Gegenwart und eröffnen neue Wege für Musik und Theologie.
Aus psychologischer Perspektive ordnet Susen Köslich-Strumann (Universität zu Lübeck), Psychologin an der Zentralen Einrichtung für Prävention und Universitäres Gesundheitsmanagement, Ideologie und Religion als Quellen von Sinn, Sicherheit und Zugehörigkeit ein. Problematisch wird Ideologie dort, wo soziale Kontrolle entsteht und Abweichungen sanktioniert werden – etwa bei geteilten Überzeugungen rund um gesunde Lebensführung. Selbstoptimierung kann in einer unübersichtlichen Welt zwar Kontrolle und Selbstwirksamkeit vermitteln, birgt aber Risiken, wenn sie zur Belastung wird, wie etwa bei Orthorexie.
Lilly Schaack, Pastorin der Kultur- und Hochschulkirche St. Petri, definiert Ideologie als festes Deutungssystem, das wenig Raum für Zweifel lässt. Religion hingegen versteht sie als Beziehung zum Unverfügbaren – zu Gott –, die Fragen offenhalten darf. In einer immer komplexer werdenden Welt nimmt sie ein gesteigertes Bedürfnis nach Orientierung wahr, bei dem die Kirche nur noch eine von vielen Anbieterinnen ist. Während Ideologien oft schnelle Antworten liefern, sieht Lilly die Stärke von Religion darin, Menschen zu befähigen, mit Ambivalenzen, Scheitern und Ungerechtigkeit leben zu können – und trotzdem weiterzumachen.
Lydia Rintz (TH Lübeck), Professorin für Städtebau an der Technischen Hochschule Lübeck, beschreibt Ideologie und Religion als kollektive Phänomene: Sie entfalten ihre Wirkung vor allem in Gemeinschaft. Ideologien sind oft negativ konnotiert, weil sie Starrheit begünstigen – zugleich spielen Kontrolle und Macht auch in religiösen Kontexten eine Rolle. Im Städtebau zeigt sich für sie, wie notwendig ›Unsicherheitskompetenz‹ geworden ist: Zielkonflikte zwischen ökologischen, sozialen und wirtschaftlichen Ansprüchen führen zu emotional aufgeladenen Debatten, in denen das große Ganze leicht aus dem Blick gerät. Moderation, Abwägung und die Bereitschaft, individuelle Interessen zurückzustellen, werden hier zur zentralen gesellschaftlichen Aufgabe.
In dieser Folge unter der Moderation von Nicole Werner, Mitarbeiterin am Brahms-Institut und Gleichstellungsbeauftragte an der Musikhochschule Lübeck (Musikhochschule Lübeck), beleuchtet der Podcast von Lübeck hoch 3 einmal monatlich Themen der Forschung, Kultur und Gesellschaft. Geladen sind jeweils Vertreter*innen der drei am Projekt beteiligten Hochschulen (Musikhochschule Lübeck, Technische Hochschule Lübeck und Universität zu Lübeck) und je nach Thema ein*e Expert*in als Gast.
für die Ukraine