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Lehrkonzepte Medizin

Praktikum "Einführung in die klinische Medizin"

Lehrkonzept von Gunther Weitz

Das Praktikum „Einführung in die klinische Medizin“ ist ein vergleichsweise junges scheinpflichtiges Fach im Medizinstudium. Es wurde im Rahmen der Neuordnung der Approbationsordnung des Jahres 2002 in den Kanon der vorklinischen Fächer aufgenommen. Ziel war es damals, den vorausgegangenen Studentenprotesten für eine patientennahe Ausbildung entgegenzukommen und Studenten1) früher an die Klinik heranzuführen. Bereits in den ersten beiden Jahren der Vorklinik sollte ein unmittelbarer Bezug zum ärztlichen Tun hergestellt werden. Die Bezeichnung „Praktikum“ dokumentiert den Anspruch eines aktivierenden Lehrformats.

Der so vorgegebene Rahmen stellt Curriculumsplaner vor gleich mehrere Herausforderungen:

1.    Kliniker müssen motiviert werden, zusätzliche Aufgaben in der Vorklinik zu übernehmen.

2.    Es handelt sich bei der „klinischen Medizin“ um ein schlecht eingrenzbares, praktisch uferloses Thema, das mit Inhalten zu füllen ist.

3.    Die konkreten Ziele der Konfrontation von medizinisch nicht vorgebildeten Studenten ohne Grundkenntnisse in Anatomie, Physiologie und Biochemie mit der klinischen Medizin sind nicht klar.

4.    Die Vorerfahrungen der Studenten gehen im ersten Semester sehr weit auseinander: Einige kommen direkt von der Schule und haben kaum naturwissenschaftliche Kenntnisse, andere hatten im Pflege- oder Rettungsdienst schon Kontakt zu einer wie auch immer gearteten Medizin.

Aus diesen Punkten ergibt sich ein großer Gestaltungsspielraum. Im Folgenden möchte ich schildern, wie ich diese Aufgabe seit Übernahme der Verantwortung im Jahr 2009 gelöst habe.

Zunächst ergab sich die Frage, was wir mit diesem Fach überhaupt erreichen möchten. Hier habe ich versucht, den Anspruch verschiedener Protagonisten in die Überlegungen mit einzubeziehen: Zum einen hat die Fakultät ein Leitbild für das Medizinstudium definiert2), deren Ziele weit von den Möglichkeiten eines Einführungspraktikums entfernt liegen. Allenfalls könnte dem Anfänger eine „positive und professionelle Haltung gegenüber Patienten“ vermittelt werden. Ein zweiter Protagonist wäre die Öffentlichkeit. Sie erwartet, dass Medizinstudenten ein gewisses, nicht näher definiertes ärztliches Handwerk im Studium erlernen. Das soll ähnlich einem Lehrberuf ab dem ersten Jahr beginnen. Als Drittes ist die Situation der Studenten selbst zu betrachten. Voller Freude, die Hürden zur Zulassung zum Studium genommen zu haben und möglicherweise auch am Studienort ihrer Wahl angekommen zu sein, werden sie schlagartig mit einer großen Menge theoretischen Stoffs und einem hohen Leistungsanspruch konfrontiert. Waren sie in Schule oder Ausbildung noch die Besten und Ältesten, sind sie nun Teil einer insgesamt leistungsstarken Gruppe und die Jüngsten in einem Studium, das wie ein Berg vor ihnen liegt. Hier den Studenten noch mehr Stoff aufzuladen, verbietet sich von selbst. Vielmehr soll die Freude an der Medizin und damit die Lust aufs Menschliche sowie die Neugier für wissenschaftliche Zusammenhänge gefördert werden. Nach meinem Verständnis flankiert das Praktikum „Einführung in die klinische Medizin“ also eher die vorklinischen Hauptfächer, in denen die Leistungsanforderungen naturgemäß hoch sein müssen.

Lernziele

Aus dem Gesagten lassen sich folgende Ziele für die Lehrveranstaltung ableiten:

1.    Die Studenten sollen Neuartiges erfahren. Sie sollen über die Komplexität der klinischen Medizin staunen, sich aber auch der Ungewissheit vieler Zusammenhänge bewusst werden. Die Spannung zwischen medizinischem Anspruch und wissenschaftlichen Möglichkeiten soll sie dazu ermutigen, Dingen auf den Grund zu gehen.
2.    Die Studenten sollen Einblicke in das ärztliche Handwerk erhalten. Sie sollen verstehen, wie ein Anamnesegespräch geführt und aus der Fülle von Informationen eine Diagnose gestellt wird. Exemplarisch sollen sie häufige oder besonders interessante Erkrankungen kennenlernen. Einfache Tätigkeiten am Krankenbett sollen sie ausprobiert haben. Ärztliches Denken und eine ärztliche Haltung soll ihnen vor Augen geführt werden.
3.    Die Lehrveranstaltung soll keinen Leistungsanspruch haben. Die Studenten sollen gerne und freiwillig zur Veranstaltung kommen. Dabei sollen Erfahrungsunterschiede ausgeglichen werden. Die Studenten sollen ermutigt werden, vermeintliches Wissen immer wieder zu hinterfragen und die Perspektive anderer in eigene Überlegungen mit einzubeziehen.
4.    Die Veranstaltung soll dem Aufwand nach ihrer Stellung im Studium entsprechen. Die Struktur soll stabil und verlässlich sein, so dass ein inhaltlicher Aufbau im Verlauf des Semesters möglich ist.

Rahmen

Der Rahmen der Veranstaltung war im Wesentlichen vorgegeben. Er richtet sich sowohl nach den Kapazitäten des Stundenplans im ersten Semester, als auch nach den Möglichkeiten des klinisch tätigen Dozenten. Auf diese Weise kam als Termin nur eine akademische Doppelstunde im Wintersemester am Freitag um 14 Uhr s.t. in Frage. Die Veranstaltung findet in einem Hörsaal im Zentralklinikum statt, der auch für Patienten gut erreichbar ist. Um eine größtmögliche Kontinuität zu sichern, gestalte ich die Lehrveranstaltung im Alleingang. Zusätzlich zu dieser als Vorlesung ausgewiesenen Veranstaltung erhält jeder Student einen Termin in dem von mir eingerichteten Skills-Lab (TÜFTL). Dieser Termin ist zwar ein Pflichttermin, wird aber an neun Freitagen im Wintersemester in der Zeit von 12 bis 14 Uhr angeboten und ist frei tauschbar. Die Übungen im TÜFTL finden unter der Anleitung von älteren Studenten statt (Peer-Teaching).

Ablauf

Der Ablauf der Veranstaltung ist immer gleich und quasi ritualisiert. Am Beginn der Veranstaltung steht ein Quiz mit sieben Fragen, auf das unten weiter eingegangen wird. Für jede richtig beantwortete Frage gibt es eine kleine Belohnung (in der Regel eine Kleinigkeit vom Bäcker). Anschließend wird eine Zusammenfassung der letzten Stunde (einseitig bedrucktes Blatt) ausgeteilt und es gibt einen kurzen Impulsvortrag zum fortlaufenden Thema der Veranstaltung. Nach ca. 20 Minuten kommt ein Patient in die Vorlesung und beantwortet Fragen im Sinne eines Anamnesegesprächs. Das Gespräch führt (nach entsprechender Einweisung in den ersten Stunden) ein Student. Es werden Fragen aus dem Plenum zugelassen und eine Hypothese erstellt bzw. eine weitere diagnostische Strategie erarbeitet. Studenten mit medizinischen Erfahrungen dürfen Fremdwörter oder Sachverhalte erklären und Lösungsansätze vorstellen, die aber wiederum zur Diskussion gestellt werden. Daran können sich auch unerfahrene Studenten beteiligen. Aus der Vielfalt der Beiträge ergibt sich am Ende meist ein gutes Konzept. Falls erforderlich frage ich gezielt nach oder gebe eigene Erklärungen. Ca. 30 Minuten vor Schluss folgt ein zweiter Kurzvortrag, diesmal über die Diagnose des Patienten und seine Behandlung, zu dem dann wiederum Fragen zugelassen werden. Die Veranstaltung verliert durch die ständige Interaktion mit dem Plenum die Prägung einer Vorlesung. Trotz der großen Menge an Studenten hat sie eher Seminarcharakter. Nur zu den beiden Kurzvorträgen setze ich zwei bis drei PowerPoint-Folien ein.

Beim Praktikum im TÜFTL werden die Studenten von älteren Kommilitonen betreut. An neun Freitagen im Semester kommen jeweils 20 Studenten ins TÜFTL und werden in vier Fünfergruppen aufgeteilt. Jede Gruppe erhält für jeweils eine halbe Stunde zu einem Themenblock eine Anleitung und jeder darf selbst Dinge ausprobieren. Die Gruppen rotieren jeweils nach der halben Stunde durch die Räume und jede Kleingruppe wird zu jedem Themenblock angeleitet. Alle Studenten erhalten das Angebot, im weiteren Studium das TÜFTL zum Üben zu nutzen.

Inhalt

Als Leitthema trägt die Veranstaltung den Titel "Vom Symptom zur Diagnose". Folgende Themenbereiche werden in den Vorlesungen behandelt:

  • Grundbegriffe der Medizinethik (antike Medizin, Caritas, Wissenschaft)
  • Symptom, Anamnese, Diagnose
  • Anamnesegespräch
  • körperliche Untersuchung
  • Testtheorie I: Zufallsverteilung, Sensitivität und Spezifität
  • Testtheorie II: Likelihood Ratio
  • Testtheorie III: Objektivität, Validität und Reliabilität
  • Blutuntersuchungen
  • Untersuchung anderer Körpermaterialien
  • Aussagemöglichkeiten des EKG
  • Aussagemöglichkeiten des Ultraschall
  • Aussagemöglichkeiten des Röntgen
  • andere diagnostische Möglichkeiten

Die Auswahl des Patienten erfolgt nach Verfügbarkeit und Bereitschaft. Ausgewählt werden Patienten mit typischen Symptomen einer häufigen oder besonders interessanten Erkrankung. Sie sollen in der Lage sein, die zur Aufnahme führenden Symptome so zu schildern, dass daraus ein Bild entsteht, und Nachfragen beantworten können. Eingrenzungen der Diagnosen gibt es nicht, es handelt sich aber in aller Regel um internistische Patienten. Übers Semester versuche ich, einen möglichst repräsentativen Querschnitt an Diagnosen einzubeziehen. Alle Begrifflichkeiten werden laienverständlich erklärt, Nachfragen sind ausdrücklich erwünscht.

Als Hausaufgabe bekommen die Studenten aufgetragen, einen Wochenabschnitt aus "Buddenbrooks" von Thomas Mann zu lesen. Die Fragen im oben erwähnten Quiz beziehen sich auf den gelesenen Abschnitt. Hier soll der Blick über den Tellerrand hinaus gehen. Die "Buddenbrooks" sind aber nicht zufällig gewählt: Zum einen bekommt die Veranstaltung ein gewisses Lokalkolorit, wenn Schauplätze in Lübeck und Umgebung besprochen werden. Zum anderen passt der Roman auch inhaltlich sehr gut. Thomas Mann war zu der Zeit der Entstehung des Romans etwa so alt wie die Studenten. Seine faszinierend plastische Beschreibung der Charaktere jeder Altersstufe verrät ein psychologisches Einfühlungsvermögen, das auch bei einer Anamneseerhebung nützlich ist. Zudem fällt der Roman in eine Zeit, in der es einen bis heute wichtigen Umbruch in der Medizin gab: Von der Erfahrungsmedizin des Dr. Grabow wendet sich sein Nachfolger Dr. Langhals deutlich ab, indem er seine Diagnosen wissenschaftlich zu untermauern versucht.

Im TÜFTL-Praktikum werden folgende Fertigkeiten eingeübt:

  • Händedesinfektion
  • Vorbereiten von Injektionen
  • Vorbereiten von Infusionen
  • Umgang mit einem Krankenhausbett
  • Blutdruckmessung
  • Subkutaninjektion
  • Blutentnahme

Evaluation

Die Veranstaltung war aufgrund des Interesses der vorklinischen Studenten an klinischen Themen immer schon gut bewertet. Nach Implementierung meines Konzepts im Jahr 2009 habe ich am Ende der ersten Reihe eine Kurzumfrage durchgeführt. Zudem dienten mir die jährlichen Evaluationen der Universität als nützliche Rückmeldung. Das Konzept der Veranstaltung habe ich gemäß den von Studenten geäußerten Wünschen weiterentwickelt. Wesentliche Neuerungen waren die bessere Strukturierung des Theorieteils, die skriptartige Zusammenfassung der behandelten Themen und die Einführung des TÜFTL-Praktikums. Seit drei Jahren steht die Gesamtbewertung bei einer sehr guten Note (1,3) und ist damit die bestevaluierte Lehrveranstaltung des Medizinstudiums. Besonders freue ich mich über das bis zum Ende des Semesters anhaltende Interesse. Bedenkt man den ungünstigen Termin (Freitagnachmittag im Wintersemester), scheint mir bemerkenswert, dass bis zur letzten Veranstaltung am Ende des Semesters immer mehr als die Hälfte des Jahrgangs aus freiem Willen in den Hörsaal kommt.

Zusammenfassung

Bei dem Praktikum "Einführung in die klinische Medizin" handelt es um eine Lehrveranstaltung, die eine Mischung aus Vorlesung und Seminar darstellt. Angeschlossen ist eine praktische Übung im Skills-Lab (TÜFTL), die als Peer-Teaching von älteren Studenten geleitet wird. Ziel ist, neben einer Einführung in das ärztliche Denken und Handeln die Bedeutung der Wissenschaft in der Medizin herauszustellen. Auf diese Weise soll die Notwendigkeit verdeutlicht werden, mit Hilfe der vorklinischen Fächer ein solides Fundament für die klinische Arbeit zu legen. Die Veranstaltung soll eher neugierig machen statt fordern und wird von den Studenten gut angenommen.

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1) Aus Gründen der Lesbarkeit wird im Text durchgehend das generische Maskulinum verwendet.

2) www.uni-luebeck.de/studium/studiengaenge/humanmedizin/ueberblicken/unser-leitbild.html (21.3.2015) „Die Studenten können die häufigsten sowie lebensbedrohlichen Gesundheitsstörungen erkennen und behandeln. Sie beherrschen die hierzu notwendigen klinisch-praktischen Fertigkeiten. Als Ausdruck ihrer positiven und professionellen Haltung gegenüber Patienten haben sie Kommunikationstechniken für die meisten Situationen des klinischen Alltags eingeübt. Im Bereich des wissenschaftlichen Arbeitens können sie sich Informationen beschaffen und diese kritisch bewerten.“